nd-aktuell.de / 25.11.2016 / Kultur / Seite 15

Frost senkt sich wie ein Himmel

»Die schmutzigen Hände« von Jean-Paul Sartre am Cuvilliés-Theater München

Hans-Dieter Schütt

Geschichte verbittert, denn sie ist allzu oft vergittert. Den besten Draht hat sie zum Stacheldraht, und jene Haltung, zu der sie Menschen bevorzugt erzieht, ist die Käfighaltung. Die Revolution ist gelehrig, sie bedient sich am Urbaustein der Evolution: an der Zelle. Auf der Bühne des Münchner Cuvilliés-Theaters steht so ein Käfig, im Gittergeviert ein weiterer Drahtverhau. Eingesperrtes Theater. Engstelle. Drüber folterndes Neonlicht. Aufgebahrt eine Leiche. Deren Geschichte wird erzählt. Martin Kusej inszenierte im Bühnenbild von Stefan Hageneier Jean-Paul Sartres Stück »Die schmutzigen Hände«.

Der Franzose schrieb sein Stück nach dem Zweiten Weltkrieg, es war sein erfolgreichstes Drama. Es fragt nach Sinn und Sehnsucht, Kommunist zu werden. Erzählt, dass man die Wahrheit angeblich sehen kann. Nicht mit dem Blick jener zwei Augen, über die ein Mensch verfügt, sondern mit dem Durchblick jener tausend Augen, die eine Partei hat. Sartre diskutiert Macht und Moral - die Moral gibt dem nach, was die Macht befiehlt. Plötzlich hat die Utopie Blut an den Händen. Sie ist mutig, sie setzt das Leben aufs Spiel - mehr und mehr das der anderen.

Der bürgerliche Intellektuelle Hugo macht reinen Tisch mit seiner Schreibtisch-Öde. Er will die revolutionäre Tat. Tat? Da macht sich der Kader-Kommunismus sofort seinen Reim drauf: Attentat! Hugo soll den kompromisslerischen Parteiführer Hoederer ermorden. Der paktiert mit den inneren Feinden gegen die deutschen Besatzer. Weil er von einem unreinen Frieden mehr hält als von der reinen Lehre. Weil ihm schmutzige Hände menschlicher scheinen als eine unmenschlich fleckenlose Idee.

Kusej spielt Lehrstück. Konturiert klar. Sartre schneller begriffen als gespielt. Erkenntnis kühlt ab. Sie kühlt hier sehr ab. Vielleicht hätten mehr Gefühle überlebt, wären sie mit Frostschutzmittel eingesprüht worden. Hier senkt sich Frost wie ein Himmel: Die Zeiten sind eisig, bevor das Morgenrot die Welt erwärmen könnte. Eine Poetik der Müdigkeit, durchbrochen von Schüben des Sarkasmus, experimentiert an der Tilgung der Unterschiede zwischen Welt und Wüste, Gesellschaft und Sarg.

Wenn Theater gut ist, ist es im direkten Sinne Stadt-Theater, bewegt also unmittelbar auch den Lebensraum, in dem es stattfindet. Was bewegt München an kaderkommunistischen Erbsünden? Wenig, darf man vermuten. Also wird dieser Sündenpfuhl zum Käfig für sehr allgemeine Fragen. Die aber nicht minder süchtig machen nach Verzicht auf handelsübliche Antwort: Denn werden nicht gerade jetzt Politcharaktere eines neuen Rückzugs benötigt, der doch ein Vormarsch wäre? Im Voneinanderlernen? Im Versuch, im anderen, im schier Verfeindeten sich selber zu sehen? Differenz zu ertragen? Differenzen als Ertrag für sich selber zu sehen? Bei allen etwa, die in der Politszene dieses Landes das Rot für sich behaupten, die schwarz oder grün oder gelbblau sind.

Wie lange darf dieser Starrsinn noch als Souveränität missbraucht werden - nämlich: unter einem politischen Banner, welchem auch immer, sich als unverrückbar zu brüsten und sich total gerechtfertigt zu fühlen? Wer eine vernünftigere Welt will, darf der sich vom Zweifel an sich selber entbinden?

Der Käfig als Klettergerüst und Disput-Kerker. Körpernacktheit und auf entblößter Haut Wundenmalerei. Und Hoederer, die Leiche, wird noch einmal auferstanden sein. Um erschossen zu werden, das walte Hugo, der Auftragskiller. Aber der tut’s weniger aus flammendem Fanatismus, sondern im Eifersuchtsaffekt gegenüber seiner Frau Jessica: Hinterm Großpolitischen toben die Existenzkonflikte des Intimen, Privaten; hehre Vorwände decken kleine Begierden. Leider hat die Partei inzwischen den Kurs gewechselt, der tote Hoederer wird plötzlich Held, sein Hinrichter jedoch gilt nun als Meuchler, wird also selber bald hin sein. Hugo, erschüttert über jenes Zickzack, das Linie heißt, verweigert die schnell erfundene Legende, die ihn von Mörderschuld befreien könnte. Jener Auftrag, der sein Leben werden sollte, er nimmt’s ihm nun, dies Leben.

Christian Erdt gibt seinen Hugo als einen Heißsporn, der noch gar nicht richtig weiß, auf wie viele Grade ein Gemüt erhitzt werden kann, um damit gleich auch noch das Gewissen zu verbrennen. Die Naivität als Leicht-Sinn, der den Menschen ganz schnell zum Parolenfutter umfunktionieren kann. Lisa Wagner spielt dessen Frau Jessica frappant zwischen Schmollmund-Reizen und Mauligkeit. Mit bewusster Weibchen-Dämlichkeit macht sie todharte Machtspiele lächerlich - Wagner bestimmt, ob eine Szene auf- oder hingerichtet wird. Sie spielt küssend - aufreizend ihre Stimme ziehend - jenes Leben, das sich den Doktrinen in den Weg stellt. Das erhebt sie zur eigentlichen Hauptgestalt. Sie ist das Spielbein, das dem Standbein der Dialoge ständig vors Schienbein tritt. Norman Hacker als Hoederer ist der früh Wissende, ein beinahe väterliches Dogmenopfer, dessen dunkle, fast routinierte Melancholie mit dem Gift kalter Gewissheit getränkt ist. Prinzipientreue? Das ist der elende Idealismus jeder Parteilichkeit: Auf zum Sturm gegen die Götzenbilder - um dann vor ihren Scherben um so devoter niederknien zu sollen. »Was du heute nicht verrätst, tötet dich morgen« (Heiner Müller). Nein, nicht morgen, in wenigen Minuten.

War für Albert Camus jedes Leiden ein Beweis für die Absurdität des Lebens - so war für Sartre das Leiden, in einer vom Klassenkampf terrorisierten Welt, »nur« eine Durchgangsphase der notwendigen politischen Kämpfe. Seine marxistische Literaten-Ethik: Apologien für Täter zu schreiben. Freilich mussten es - das würdigt ihn! - Täter in der Machtlosigkeit sein: Denn wo der Moskauer Parteikommunismus als Staatsreligion triumphierte, dort sprach Sartre den jeweiligen Regimes alle Nähe zur befreienden Idee sehr schnell ab.

Wer aus dem Osten zu dieser Inszenierung der rhetorisch spitzen Pfeile und auch ruppigen Textzweikämpfe reist, fühlt wohl stärker als ein Münchner Publikum: Seit der friedlichen Revolution 1989 ist auch der Kommunismus eine befreite Idee. Befreit von der Neurose, unbedingt nur immer Siege zu simulieren; ein Traum, befreit vom Trauma, sich als einzig lohnende Zukunft der Welt sehen zu müssen. Endlich nur eine Möglichkeit unter vielen sein zu dürfen, das ist Freiheit.

Die Gitterstabskultur Kusejs schafft also Raum für Wahrheiten, die im Namen der Wahrheit lange verschwiegen wurden. Die Reihen fest geschlossen? Nimmer rückwärts, immer nur vorwärts, mit voller Kraft voraus? Ja, so feixt die Historie aller Zeiten und Welten, sie feixt zynisch beweiskräftig: Schaut doch in die Geschichte, selbst die unschuldig Erschossenen fallen meistens - nach vorn.

Nächste Vorstellungen: 30. November; 15., 16., 17. Dezember