Jeder kommt für sich in den Himmel

Margaret Forster und die Malerin G. John

  • Raphaela Kula
  • Lesedauer: 3 Min.
Ich denke, wenn wir schöne Bilder machen wollen, dann müssen wir frei von Familienkonventionen und -bindungen sein ... Ich denke, die Familie gehört der Vergangenheit an. Wir kommen nicht in Familien in den Himmel, sondern jeder für sich«, schrieb die britische Malerin Gwen John an ihre Maler-Freundin Ursula Tyrwith. Gwen John lebte für ihre Malerei, gegen die Konventionen ihrer Zeit. Sie wurde 1876 in Wales geboren, ab 1884 wuchs sie in dem kleinen Küstenort Tenby auf. Mit 19 besuchte sie in London die Slade School of Art, zu der Zeit die progressivste in England. 1898 ging sie für einige Monate zum Kunststudium nach Paris, vier Jahre später verlegte sie ihren Lebensmittelpunkt gänzlich nach Paris. Sie blieb keine Unbekannte: Bis zu ihrem Tod nahm sie regelmäßig an Ausstellungen in England teil, stellte auch in den USA aus, zum Beispiel 1913 bei der »International Exhibition of Modern Art« in New York, Boston und Chicago. Mit Künstlern wie Matisse, Picasso, Cézanne traf sie zusammen, arbeitete für den Bildhauer Rodin als Modell und war mit ihm für ein Jahrzehnt in einer Liebesbeziehung verbunden. Gwen John gab ihre eigene künstlerische Arbeit nie auf und entwickelte sie beständig fort. Sie starb im September 1939 auf einer Frankreichreise. Mehrere ihrer Arbeiten sind in der Londoner Tate Gallery zu besichtigen. Und hier beginnt Margaret Forsters neuer Roman, »Ein Zimmer, sechs Frauen und ein Bild«. Die Schülerin und künftige Kunststudentin Gillian besucht während eines Schulausflugs die Tate Gallery. Gillian ist beeindruckt und bewegt von Arbeiten der Künstlerin Gwen John, sie fragt nach der Eigenständigkeit der künstlerischen Arbeiten, ihrem Eigenleben. »... welche Wirkung hatte es auf die Menschen, die es betrachteten. Was hat es ihnen bedeutet, wie haben sie es betrachtet, haben sie dasselbe gefühlt wie ich, haben sie gesehen, was ich gesehen habe ...« Das ist die Ausgangsfrage des Romans. Ihr geht Margaret Forster anhand eines Bildes der Malerin nach: »Corner of the Artist's Room in Paris« (Abb.: www.bluffton.edu). Eine erste Ausführung der Arbeit wird an eine Freundin verschenkt, sorgfältig und sicher im Reisekoffer verpackt, damit ihm nichts geschieht, doch das Schicksal nimmt seinen Lauf: Der Koffer geht verloren, und somit beginnt der eigene Weg des Gemäldes. Es gelangt zu Charlotte, Lieblingstochter ihres Vaters, die sich nicht entsprechend den Vorstellungen ihrer Mutter verhält. Das Gemälde wird entwendet, kommt über Stella zu Lucasta und dann zur nächsten Besitzerin Ailsa. Der Zeitrahmen umfasst ein Jahrhundert, immer wieder spielt Gwen Johns kleines Bild eine unterstützenden Rolle bei großen Entschlüssen, Lebens-umbrüchen. Am Ende schließt sich der Kreis, und wir sind wieder bei Gillian. Margaret Forster ist es gelungen, der Wirkungsmächtigkeit eines kleinen Kunstwerkes nachzuspüren, sie verknüpft Lebensgeschichten unterschiedlichster Frauen, gemeinsam ist allen die Suche und die Sehnsucht nach Eigenständigkeit, nach persönlicher Freiheit und Freiräumen. Der Londoner Autorin, zuletzt erschien ihr tagebuchartiger Roman »Ich warte darauf, dass etwas geschieht«, ist nicht nur eine bewegende, bezaubernde Geschichte gelungen, sie legt eine Hommage an die Kunst und ganz besonders an das Werk Gwen Johns vor. Margaret Forster: Ein Zimmer, sechs Frauen und ein Bild. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Roseli und Saskia Bontjes van Beek. Arche Verlag. 524 S., geb., 24 EUR.
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