nd-aktuell.de / 07.12.2016 / Kommentare / Seite 4

Rot-Rot-Grün: Die Arbeiterklasse wird's nicht tun

Thomas Seibert setzt für eine Linkswende auf das solidarische Drittel der Gesellschaft - und nicht allein auf die Abgehängten

Thomas Seibert

Angesichts des anhaltenden Rechtsrucks rufen viele Linke danach, dass jetzt wieder Politik mit der Arbeiterklasse gemacht werden müsse. Der unbedingte Wunsch nach einem revolutionären Subjekt wird in diejenigen hineinprojiziert, die unter Ausbeutung und Missachtung leiden. Dass die Linke Politik für die ausgebeuteten Klassen machen muss: Unwidersprochen. Auf der Suche nach Unterstützern einer Linkswende in Europa sollte sie jedoch stärker auf jene orientieren, die bereits feministische, antirassistische, ökologische Werte vertreten: Auf das dissidente Drittel der Gesellschaft.

Michael Brie und Mario Candeias aus der Rosa-Luxemburg-Stiftung haben zur Debatte um eine rot-rot-grüne Regierung vieles gesagt, dem ich zustimme: Ja, die ganze Option hängt nicht an einem parteipolitischen Farbspiel, sondern an einem gesellschaftlichen »Dritten Pol«. Wie dieses Lager konkret zu verstehen ist, darin hängt jedoch mein Widerspruch. Die Rede vom Dritten Pol reflektiert, dass wir es in der BRD weniger mit einem Rechtsruck als mit einer Spaltung der Gesellschaft in drei gleich starke Pole zu tun haben: Pol des neoliberalen Weiter-so, Pol des sozial-nationalen Ressentiments, Pol eines (erst 2021 möglichen) linken »Richtungswechsels« zu Rot-Rot-Grün. Zu Recht verweisen Brie und Candeias darauf, dass sich in dieser gesellschaftlichen Dreiteilung auch der Klassencharakter kapitalistischer Vergesellschaftung ausdrückt.

Falsch aber ist die Annahme, dass dieser Pol in eine »klassenpolitische« Bahn gelenkt werden müsse. Damit folgen auch sie dem Hang, in der Vorbereitung des Richtungswechsels zuerst die »Abgehängten« und »Verängstigten« in den Blick zu nehmen. Als ob der Wechsel an dem tatsächlicher oder potenzieller AfD-Wähler*innen zur LINKEN hänge.

Verkannt wird dabei, dass die politischen Spaltungsprozesse in sich klassenübergreifend sind. Sozial-nationale Ressentiments sind sowohl im Sockel, als auch in der Mitte der Klassenpyramide zu finden.
Wer jetzt auf eine linke Wende zur »Arbeiterklasse« setzt, verkennt, dass »Klasse« zwar eine Kategorie ist, die Verhältnisse der Unterdrückung, Ausbeutung und Missachtung fasst, doch nur bedingt eine Kategorie ihrer Überwindung sein wird. Natürlich ist das bei Kategorien wie Migrationshintergrund/»Race« oder Geschlecht wenig anders: Auch hier sind die unmittelbar Betroffenen nicht als solche schon die Erstgeborenen des politisch Möglichen. Das ist keine neue Erkenntnis. Doch zieren sich selbst Brie und Candeias vor den daraus zu ziehenden Schlüssen.

Positiv gewendet: Den dritten, solidarischen Pol zur entscheidenden Kraft des Richtungswechsels zu machen, muss heißen, zuerst die verschiedenen dissidenten Milieus anzusprechen, die sich – von sich aus! – politisch links artikulieren. Entscheidend ist also nicht die soziale, sondern die politische Zusammensetzung des Pols, seine anti-neoliberale, antirassistische, antisexistische, wachstumskritische und paneuropäische Mixtur. Zwischen 2017 und 2021 ist es Aufgabe der Linken, dieses dissidente Lager zu einer tatsächlich linken Mehrheit und rot-rot-grünen Regierung zu formieren.

Unser eigentliches Problem liegt nicht in angeblicher Klassenvergessenheit, sondern in der doppelten Krise der Repräsentation und des Aktivismus. Der Dritte Pol ist ein »Pol der Solidarität«. Deshalb braucht er den aktivistischen Gang in die sozialen Kämpfe, in die Stadtteile, sogar Hausbesuche. Doch ist der Dritte Pol keine soziale Bewegung und noch weniger ein Vorfeldmilieu politischer Parteien, auch nicht der LINKEN. Stattdessen bildet er sich an all den Orten, an denen sich Bewegungs- und Parteilinke mit jenen verbinden, die zwar links sind, doch weder Bewegungs-, noch Parteilinke werden wollen. Aktuell wissen wir noch nicht wirklich, wen wir dazu wie einladen können. 2017 ist die Debatte über Rot-Rot-Grün ein Weg, das herauszufinden.

Das Letzte, was wir für eine Linkswende brauchen, ist ein »Linkspopulismus«, der sozial-nationale Ressentiments bedient. Meine Wette ist, dass das neue Zusammenkommen des dissidenten Drittels dem Unabgegoltenen des Mai 68 entspringen wird. Ein »neues«, linkes Regieren muss den solidarischen Aktivismus und seine politische Repräsentation aufeinander beziehen. Es muss dissidente Städte geben. Und einen verfassungsgebenden Prozess für eine demokratisierte EU.