nd-aktuell.de / 10.12.2016 / Wissen

Furchtbare Richter

Annotiert

Von Ernst Reuß

Der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, Johannes Tuchel, hat ein bemerkenswertes wie erschütterndes Buch veröffentlicht. Er untersuchte 69 Todesurteile des Kammergerichts Berlin in der NS-Zeit. Die Verurteilten waren des Hochverrats, der Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung, des Landesverrat etc. beschuldigt. Das erste nachgewiesene Todesurteil wurde im Juli 1943 gegen einen 31-jährigen polnischen Landarbeiter namens Stefan Rydynski gesprochen, weil er an das Polnische Rote Kreuz Geld spendete. Das galt als Vorbereitung zum Hochverrat. Der in Camburg/Saale in der Bahnmeisterei arbeitende Mann wurde am 6. August 1943 in Plötzensee enthauptet. Das letzte Urteil vom April 1945 gegen den 46-jährigen Kommunisten Erwin Scholz wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung, Waffenbesitz und »Rundfunkverbrechen« konnte zum Glück nicht mehr vollstreckt werden; er wurde wenige Stunden vor der Hinrichtung in Plötzensee von der Roten Armee gerettet. Mindestens acht seiner mitverhafteten Genossen war dies nicht vergönnt, sie waren ermordet worden.

Seit 1933 verurteilte das Kammergericht Kommunisten, Sozialdemokraten und andere Gegner des Naziregimes. Tuchel vermutet, dass alleine diese Institution bis 1945 mindestens 5000 Menschen in politischen Strafsachen verurteilte. Dennoch wurde dieses Gericht, das auf eine mehr als 500-jährige Geschichte zurückblicken kann, nach dem Krieg als ein Hort richterlicher Unabhängigkeit und Liberalität gefeiert. Über die Schreibtischtäter, die sich dem Hitler-Regime ohne geringsten Widerspruch anpassten und denen das Schicksal ihrer jüdischen Berufskollegen ziemlich egal war, war bislang nur wenig zu lesen. Monika Nöhre, ehemalige Präsidentin des Kammergerichts schreibt in ihrem Vorwort: »In Kenntnis der Forschungsergebnisse von Johannes Tuchel wird man fortan wohl nicht länger davon sprechen können, dass der ›Volksgerichtshof‹ nur als Gast im Kammergericht tagte. Er war, eine wenig schmeichelhafte Bilanz für das älteste deutsche Gericht, dessen vertrauter Partner im Unrecht.«

Das würdig layoutete Buch enthält viele Originaldokumente und Bilder. Erstmals sind sechs Anklageschriften und 19 Todesurteile des Kammergerichts in Faksimile veröffentlicht. Immer wieder erschreckend ist, für welche Lappalien Menschen von der deutschen Justiz den Nazihenkern übergeben wurden. Tuchel resümiert: »Die Funktion des Kammergerichts bei der Unterdrückung der politischen Opposition in der Vorkriegszeit ist also evident, aber noch nicht ausreichend untersucht.«

Johannes Tuchel: Die Todesurteile des Kammergerichts 1943 bis 1945. Lukas-Verlag, Berlin 2016. 456 S., br., 24,90 €.