Wer aus dem Theater kommt, ist nicht unbedingt klüger als zuvor. Zumal, wenn es dort um Fragen geht, die sich durch die Geschichte der Menschheit ziehen. Sie immer neu im aktuellen Kontext aufzuwerfen allerdings, ist ein Verdienst. Die Agentur für Anerkennung geht dem mit der Inszenierung »Der Horatier« von Heiner Müller im Theater unterm Dach als Heldenbefragung nach. Neue Fragen kommen hinzu.
Keine Angst vor Müller? Doch, da war eine erst verstörende Berührung mit dem ungewöhnlichen Sprachrhythmus der Parabel, räumen die Schauspieler ein. Eigenen Rhythmus geben sie der Inszenierung in der Regie von Reto Kamberger dazu - sauber im von Anna Dieterich einstudierten Chor sprechend, sich auf den Körper klopfend, aufstampfend, mit langen Stangen agierend. Manchmal gerät es zum Kriegsgeräusch. Schließlich geht es um Schlacht, Kampf und Mord. Der Horatier errang einen Sieg für sein Land. Aber er tötet dafür den Verlobten seiner Schwester, tötet auch sie, weil sie ihn nicht ehrt, sondern um ihren Liebsten trauert. Ist der Horatier nun Sieger? Ist er Mörder? Er steht zwischen Lorbeer und Beil. Man hält Gericht.
Für gewöhnlich stört, etwas über den Entstehungsprozess eines Stücks bei der Aufführung zu erfahren. Man will das Ergebnis, basta. Hier ist das anders. Bei der Agentur für Anerkennung geben die Akteure auch Persönliches preis. Man soll wissen, wer dort auf der Bühne steht und was er zu sagen hat. So ist das Konzept. Die Inszenierung öffnet sich, ohne Kumpel des Publikums sein zu wollen. Sie macht sich lebensnäher, verletzbarer.
»Der Horatier« wird erst gegen Ende zitiert. Vorher schildern Darinka Ezeta, Homa Faghiri, Ayham Hisnawi, Katharina Merschel und Fabian Neupert Begebenheiten, über die jeweils die anderen urteilen. Liegt Schuld vor oder Verdienst? »Und das Volk antwortete mit einer Stimme« schrieb Müller. Im Stück sind sich die Urteilenden nicht immer einig. Sie fragen: Kann man kollektiv denken?
Das Stück macht deutlich, wie oft wir im Alltag dazu aufgefordert sind oder uns aufgefordert fühlen, mehr oder weniger schnell zu urteilen, mitunter mit uns selbst im Streit. Im Ermessen scheidet sich der Geist. Ob es möglich ist, politische Ereignisse vielschichtig zu beurteilen, lässt sich klar mit Ja und Nein beantworten. Aber so weit muss man nicht gehen. Die Wahrnehmung der unmittelbaren Umgebung fordert doch schon heraus.
Der Schauspieler Ayham Hisnawi wollte nicht mehr in Syrien bleiben. Er verließ vor einem Jahr sein Elternhaus. Belud er sich mit Schuld, als er ging, als die Politik in Syrien Familien spaltete? Verdienst, urteilen die anderen. Dem Krieg innerlich noch nah, bewegt ihn Müllers Werk sichtlich. In Berlin berufliche Kontakte suchend, war er schon im Frühjahr bei dem Projekt »Wechselstube« im Deutschen Theater mit Geflüchteten in den Künsten dabei. Anerkennung blieb nicht aus.
Nächste Vorstellungen: 16.-18.12., 14./15.1., 20 Uhr, Theater unterm Dach, Danziger Str. 101, Prenzlauer Berg, Tel.: (030) 902 95 38 17
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1035503.wo-ist-schuld-wo-verdienst.html