nd-aktuell.de / 21.12.2016 / Kultur / Seite 14

Schöne Schule der Geduld

Martin Mosebachs großartiger Roman einer Flucht: »Mogador«

Hans-Dieter Schütt

Die totale Öffentlichkeit kennt keinen Außenseiter mehr. Selbst Reisende, die es für eine Weile nach draußen drängt, bieten nur das Bild einer dünnen, wertlosen Abgeschiedenheit. Denn bereits auf jenem Flughafen, der sie aus der Geschäftigkeit entfernen soll, genügt ein beliebiger Handyanruf, und die gebuchte Auszeit ist verscheucht, ehe sie überhaupt beginnen darf. Martin Mosebach jedoch kann schreiben, worüber er mag - stets ist er ein geistig vorzüglicher Reisender, dessen Literatur entrückt und entführt. Du gehst ins neue Buch als Stress-Realo, und plötzlich? Sieh nur, wie dich unerwartet das Bedürfnis antreibt, dies und jenes unbegreiflich zu finden und still zu staunen - und zu genießen, frohen Herzens etwas töricht zu sein. Die Welt ist bei Mosebach-Lektüren kein Gegenstand mehr, der unserer Auslegung harrt, nein, sie wird Wunder und Schauder.

Ob der Autor nun das schäumende Meer beschreibt oder die Geburt eines Kälbchens: Lesend verlierst du die Lust, alle Geschehnisse nur immer mit Gelehrsamkeit und Aufklärung zu umspeicheln, um sie verdaulich zu machen. Du wirst bei Mosebach gewissermaßen zum Parsifal, der sein Ignoriervermögen entdeckt und damit ein Bewusstsein entwickelt, ja entfaltet, das ihm von allen Seiten souffliert: Wehre den ab, der dir die Welt erklären will, sag also trittfest: Ich will es nicht wissen! Eine Woche Zeitung genügt ja, um diesem Willen Stoff zuzuführen. Aber ich will heute mal nicht wissen, warum man Shakespeares Othello nicht mehr einen Mohren nennen soll. Ich will nicht wissen, was die Burka emanzipationskriegerisch bedeutet. Ich will nicht wissen, was am unschuldigen Wörtlein »niemand« derart verderblich ist, dass man so kulturlos sein darf, »niemensch« zu schreiben und sich dabei noch progressiv vorzukommen. Mosebach entlobt dich aller Parteigängerschaft mit den Durch- und Tief- und Weit- und Einblickern. Leben als »wortloses Denken«, wie es wunderbar paradox im Buch heißt. Und ab und zu ein Hieb gegen die derzeit abstruse sittenpolizeiliche Aufgeladenheit - erster Platz in der Hitparade der politischen Korrektheiten: »die Gewalt gegen Frauen, und da wurden die Maßstäbe beständig verfeinert, schon die Belästigung geriet in die Nähe der Gewaltsamkeit«.

Beheimatet in der Druckkammer des Westens, braucht man ferne, verschrobene, verwunschene Räume, sonst glaubt man nicht mehr, dass man noch lange existieren kann. Mogador etwa. Das klingt doch schon mal sehr exotisch. Der alte portugiesische Name des heutigen Essaouira. Stadt der Fischer an der Atlantikküste, was vor allem bedeutet: Hier sterben die Männer auf See. Dorthin reist der Deutsche Patrick Elff. Er fährt weit weg, weil man wahrscheinlich weit weg sein muss, um diesen einen Satz zu begreifen: »Wenn man in Marokko nicht die Geduld lernte, wo sonst?« Die Geduld, diese Lehrmeisterin, hockt in allen Winkeln auch jenes Bordells, wo Elff Gast ist. Gast bei der so mystischen wie geschäftssicheren Kupplerin, Geldverleiherin und Wahrsagerin Khadija. Zweimal verwitwet. Verbandelt mit einem Dämon, der wiederum aus einem ermordeten Tier »erwuchs«. Die Parze, »die sowohl die Fäden spann als auch über die Schere verfügte, um sie abzuschneiden.«

Dr. Patrick Elff, Düsseldorfer Banker, war in miese Finanzgebaren, in den Selbstmord eines Kollegen und also in peinliche Verhöre der Ermittler hineingeraten, war durch ein Fenster der Polizeibehörde ins Freie und in ein Flugzeug gestiegen. Nach dem Aufstieg der Ausstieg, so spontan wie gründlich. Eine Reise ins Märchenhafte, darin es überall munkelt. Einsamkeit. Abschied von der SIM-Karte. Einsamkeit, das ist, wenn ein Missverhältnis zum Erlebnis wird: das Missverhältnis zwischen Sein und Seinssucht, also Sehnsucht. Dies Missverhältnis ist die treibende Grundlage dafür, die Wirklichkeit - wenigstens zeitweise - aller Kulissen, Dekorationen, Vermummungen zu entkleiden. Eine Eindrücklichkeit, die an Antonionis Filmklassiker »Beruf: Reporter« erinnert. Die Hitze als Droge. Die vor Müdigkeit gesenkten Lider als Schule des wahren Schauens: Wer genau hinsieht, der sieht, was keine Zukunft hinwegschaffen kann; wir bleiben uns treu im alten Unabänderlichen.

Grandios, wie Mosebach die Bettler von Mogador, ja: erscheinen lässt. Schnellschlüssig wäre angesichts dieser Armen zu fordern: Her mit sozialgesellschaftlicher Analyse und triftiger Kapitalismuskritik! Mosebach aber ist Anschauungs-Künstler, den Sinnen wird hier eine orientalisch farbigste Stände-Pracht dieser Ausgestoßenen geboten, die schlichtweg fasziniert. Stolz in der Gosse, Souveränität im Dreck, Individualität im brutalen Aus - im beschämenden sozialen Nichts eine schäumende Feier des Lebens. Auf wie viele verschiedene Weisen man Münzen entgegennehmen kann! Wie herrisch man als Geknechteter werden kann! Das Almosen nicht so sehr als Bindeglied zwischen Gebenden und Nehmenden, sondern als Pflichtsteuerbeitrag, mit dem der Bürger Gottesfurcht beweist: Nicht der Magen des Bettlers ist der Adressat der Spende, sondern das Herz des Spenders selbst. Eine menschliche Komödie der Würde und des Kampfes darum. Das Elend als Größe. Mosebach brilliert zwischen genauer Beobachtung und filigranen Einschüben, ganz aus Absonderlichkeit und mystischer Lust. Ein geschmeidig-leichter Fluss der Dinge. Noblesse noch im Beschau des scheinbar Niedrigsten.

Von Geduld war die Rede. Geduld auch mit dem, was eine Welt zusammenhält. Mosebach entwirft Elffs Auszeit-Abenteuer »am Ende der Welt«, und wir erfahren dabei eine Gesellschaft, in der Korruption und der Krieg dagegen ein vertracktes System der Ausgeglichenheit, der gegenseitigen Relativierung bilden. Es muss nicht Demokratie herrschen, um zu einem Seelenheil zu gelangen. Niemand braucht Parteien und Diskurse, um glücklich zu sein. Mosebach ist ein Zauberer der fremdländischen Archaik. Es ist ein Blick in jene Erstaunlichkeit, in der sich allüberall, unter offenkundig jeder Bedingung, Leben ans Leben krallt und Beständigkeit ausbildet.

Erzählen ist diesem Autor einfach schön, bedeutet ihm Stil und also filigran gespreizte Sprache - keine Kritik am Zustand der Welt gerät ihm je zur Tonlage, darin sich nur jene Grobheit wiederholt, die von der Welt vorgegeben wird. Großartig, wie er jenen schillernden Sog des Geldwäschegeschäfts erzählt, der Elffs so überstürzte wie entschiedene Flucht auslöste. Diese Verführungskraft der kriminellen Energie, dieses Aufblühen der Bereicherungssinne, der betrügerischen Talente, die in aller Seelen auf ihre Stunde lauern, das Gewissen umzüngeln. umtänzeln! Dieser Schriftsteller liebt den beladenen Menschen. Denn dem ist nicht die Last aufzubürden, zu leben und dies Leben auch noch begreifen zu sollen; solche Forderung, das ist die fortdauernde Anmaßungsillusion, die langweilige Erziehungsofferte der Moralisten. Nicht einlösbar.

Dieser kapriziöse Roman, das ist Prosa-Poesie rund um einen Menschen, der versucht, den Bedeutungen auszuweichen, die aus aller Begegnung auf ihn zukommt. Wahrer innerer Frieden, was ist das? Stehen »am Ufer der vorbeirauschenden Zeit«. Elff ist Banker, aber eigentlich Literaturwissenschaftler, seine Frau, die mit Immobilien handelt, auch. Von sich selbst Entfremdete? Immer ist das Leben eine Reihe von Wendepunkten, an denen etwas geschah, was so nicht unbedingt hätte geschehen müssen. Aber wir sind nun einmal das, was mit uns, in uns, durch uns geschah - wie steht dies im Verhältnis zu dem, was nicht hätte geschehen müssen, und wie wird angesichts dessen unser Leben wirklich so erzählbar, dass sich so etwas wie Selbstgestaltung behaupten lässt? Eine Frage, deren Beantwortung wir durchaus fürchten dürfen. Wie auch diese Selbstbefragung: Wann bin denn ich das letzte Mal aus dem Fenster gesprungen und in ein Fahr- oder Flugzeug märchenwärts gestiegen?

Martin Mosebach: Mogador. Roman. Rowohlt Verlag Reinbek. 367 S., geb., 22,95 €.