Die Reichsbürger

Gerd Fesser hat ein kleines, aber kluges Kompendium zum wilhelminischen Kaiserreich verfasst

  • Kurt Wernicke
  • Lesedauer: 4 Min.

Handbücher pflegen gemeinhin als dickleibige Bände daherzukommen. Das ist hier nicht der Fall, im Gegenteil: Auf wenig mehr als hundert Seiten liefert der Gerd Fesser ein Kompendium zum wilhelminischen Kaiserreich, das alle wesentlichen Aspekte dieses national- wie weltgeschichtlichen Phänomens behandelt. Das annähernd mit der gleichen Zielrichtung eines essenziellen Einblicks in die besagte Epoche angelegte Unternehmen des Deutschen Taschenbuch Verlages aus den 1980er/90er Jahren benötigt für die die Thematik vier Bände.

Fessers für die Reihe »Basiswissen« des Kölner PapyRossa Verlages unternommene stringente Verknappung ist angesichts der Fülle des vermittelten und zu vermittelnden Stoffes nicht hoch genug zu schätzen. Dessen Darstellung in insgesamt 29 Kapiteln deckt alle Bereiche der Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Politik ab, die das Deutsche Kaiserreich unter einem Hohenzollern prägten. So werden neben dem Regierungssystem die Sozialstruktur inklusive deren Wandlung sowie Alltag, Lebensweise und Identifikationen erörtert, letztere in den Kapiteln »Bildung, Wissenschaft, Philosophie«, »Offiziöse Kultur, Avantgarde und Arbeiterkulturbewegung« sowie »Religion und Kirchen«. Mit jeweils eigenen Abschnitten bedacht sind diverse Reformbewegungen sowie die sich seinerzeit auch in Deutschland zu Wort meldende Frauenemanzipation. Dass der Arbeiterbewegung ein eigenes Kapitel gewidmet ist, wird in der seriösen Forschung mittlerweile als selbstverständlich empfunden. Die Integration der Arbeiterbewegung in das deutsche Geschichtsbild war jedoch keineswegs selbstverständlich und geht - woran hier explizit erinnert sei - auf die Vorleistungen von DDR-Historiografen zurück, denen sich ihre bundesdeutschen Kollegen dann durch eigene Forschungsfelder anschlossen.

Dass der Wirkungsmächtigkeit der Organisierung bis dato diffuser Massen demgegenüber noch immer nicht die gebührende Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit dem 1870/71 verspätet aus der Taufe gehobenen deutschen Nationalstaat findet, ist dem aus der Jenenser Schule der Parteiengeschichtsforschung hervorgegangenen Autor bestens bewusst. Fesser spricht im Kapitel über Nationalismus, Antisemitismus und Militarismus die fatale Rolle der Kriegervereine wie auch die der aus den Einjährig-Freiwilligen hervorgegangenen Landwehr-Reserveoffiziere an. Das stärkste Charakteristikum für den die zivile Gesellschaft durchwuchernden Militarismus spart Fesser leider aus: Der Lebensweg der bürgerlichen Eliten war in dem durch das Militär beherrschten System dermaßen durch militärische Rangfolge geprägt, dass das Abschlusszeugnis der gymnasialen Obertertia reichsweit einfach »das Einjährige« hieß, weil es zum Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger (und damit zum späteren Rang als Landwehroffizier) berechtigte.

Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der weithin als »endliche Vollendung« gefeierte deutsche Nationalstaat von 1871 als ein cum grano salis, enthält also nur ein »Körnchen Wahrheit«. Denn das Reich umfasste eine Reihe von nationalen Minderheiten, die rund zwei Millionen Bürger ausmachten. Ihnen gegenüber fand das Wilhelminische Reich nie zu einer geschlossenen Politik, was Fesser in dem entsprechenden Kapitel mit kräftigen Strichen nachzeichnet: Widerwillige Duldung wechselte immer wieder mit Ausgrenzung und Unterdrückung. Durchweg lag auf den Minderheiten der Verdacht der Widersetzlichkeit gegen den Obrigkeitsstaat - ein Verdacht, der aus der Sicht der »staatstragenden Elemente« die fremdsprachlichen Minderheiten mit den »Reichsfeinden« deutscher Zunge, also den papsttreuen Katholiken und den die Klassenherrschaft in Frage stellenden Sozialdemokraten, in einen Topf warf.

Wesentlicher Bestandteil von Fessers Nachzeichnung ist die Außenpolitik des Reiches. Dem Stereotyp, die Bismarcksche Kontinentalpolitik als Friedenspolitik und der wilhelminischen Weltpolitik nach ihm als risikoreiches Abenteuerspiel gegenüberzustellen, widerspricht Fesser mit Recht. Er verweist darauf, dass Bismarck mit seinem Intimus Moltke 1875 durchaus auf einen europäischen Krieg hinzielte, aber - durch die drohende Einheitsfront der europäischen Großmächte erschreckt - eine Kehrtwende machte. Sehr richtig auch ordnet Fesser den Anfang des 20. Jahrhunderts wuchernden Bismarck-Kult als Ausdruck der neben dem vorherrschenden Hurra-Patriotismus durchaus vorhandenen Skepsis gegenüber wilhelminischer Kraftmeierei, mit der das Kaiserreich schließlich in die Katastrophe des Ersten Weltkrieges und seinen Untergang marschierte. Es mag der Konzentration auf wesentliche Vorgänge und Schlüsselsituationen geschuldet gewesen sein, dennoch ist es bedauerlich, dass dem ausgerechnet jenes schicksalsschwere Treffen der militärischen Führungsspitzen mit Wilhelm II. am 8. Dezember 1912 im Berliner Stadtschloss zum Opfer fiel, auf dem die Entscheidung zur Entfesselung des Weltkrieges gefallen ist.

Nichtsdestotrotz gelang Gerd Fesser eine überzeugende Komprimierung komplexer historischer Abläufe und Schlüsseldaten, die jeder historisch Interessierte mit Gewinn liest - und die den toll gewordenen »Reichsbürgern« von heute als Pflichtlektüre verordnet werden sollte.

Gerd Fesser: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1914. Reihe Basiswissen. PapyRossa Verlag, Köln 2016. 127 S., br., 9,90 €.

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