Unschuld? Danke!

Ein Kinder-Tag

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Heute ist der »Tag der unschuldigen Kinder«. Ein ehrenwerter Tag. Die Kirche gedenkt jener Kleinen, die wegen der Machtgier des Königs Herodes nach Christi Geburt sterben mussten. Die Unschuld der Kinder! Eine Projektionsfläche für Utopien der Friedfertigkeit. Schön. Es ist wahrlich Kirchenköniglichkeit, dies als Bewusstwerdungstag zu feiern. Herbert Grönemeyer erhob’s zum legendär geröhrten Wahlplakat: »Kinder an die Macht!« Man hört es gern, fühlt es gern, möchte es gern. Aber ...

Wünsche, der Unschuld eine Lobby zu schaffen, provozieren die Fantasie. Ja ja, unschuldige Kinder hätten gewiss keinen Weltkrieg angefacht, denn der kleine Adolf H. hat so wenig Konzentrationslager gebaut, wie der kleine Josef Wissarionowitsch S. auf die Idee kam, millionenfach Kommunisten zu ermorden. Billy Clinton, als er (und alles an ihm!) noch winzig war, wäre nie in eine Affäre mit der kleinen Monica hineingeschlingert. Kindern traut man einfach nur Gutes zu. Und so wären die Jüngsten nie auf die Idee einer Oktoberrevolution gekommen. Die kleinen Rangen Riexinger oder wie die Ungelenken der jetzigen Grauzeit alle heißen - sie wären nie dem typisch erwachsenen Jux verfallen, ihren fladigen Denksprachstil in die Öffentlichkeit zu tragen. Der kleine Putin hätte nicht unter seiner napoleonisch ungünstigen Körpergröße gelitten, sich also nicht in den Gernegroß geflüchtet und niemals die Krim geklaut.

Die Unschuld der Kinder zu beschwören, das ist aber immer auch verkitschte Abkehr von jener Unberechenbarkeit, die mit der Geburt jedes Menschen neu in die Welt kommt. Manövrieren mit einer Unschuldsmasse, der man jene unbefleckte Vernünftigkeit aufbürdet, die uns Verwachsenen abhanden kam. Hie die Reinheit alles Frühen, da die Verderbtheit alles Späteren? Wieso wird vermutet, eine unschuldige wäre die bessere Welt? Es wäre die lügnerischste! Leben heißt, Schuld auf sich zu laden, und Kinder mischen da munter mit. Sie sind am fröhlichsten verantwortungs- und rücksichtslos. Charlie Chaplin beneidete sie um diese vormoralische »Grausamkeit«.

Und sie hat doch heftige Schattenseiten, die Unschuld der Kinder. Unschuld heißt: sich nicht an der Realität zu vergreifen, nicht zu handeln. Also wer weiß, ob der Thomas, als er noch ein Männlein war, »Die Buddenbrooks« geschrieben hätte. Unschuld bedeutet: Einflusslosigkeit. Selbst Kinder hätten demnach nicht automatisch für den Glücksfall sorgen können, dass Bayern München jedes Jahr die Champions League gewinnt. Jene so elend kommentargeile, grobe Community-Gilde der Online-Portale deutscher Zeitungen hätten sie ebenfalls nicht verhindern können. Und auf keinen Fall hätten sie das 13. Monatsgehalt, den Skilift, das saftige Steak, Hollywood, den demokratischen Westen, die »Alien«-Filme oder das herrliche Flensburger Bier erfunden. Dessen Abwesenheit inzwischen viele Leute wahrscheinlich schwermütiger machen würde als eine eventuell nicht erfundene Oktoberrevolution.

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