Zwischen Revolution und Reformation lagen in Eisleben gut 250 Schritte. So weit ist es vom Markt der Stadt im Mansfeld, wo Martin Luther seit 134 Jahren auf einem steinernen Sockel steht, bis zu einem Platz namens Plan. Dort leistete ihm Wladimir Iljitsch Lenin in Bronze eine Zeit lang Gesellschaft. So nahe wie hier sind sich der Reformator und der Revolutionsführer wohl sonst nirgends gekommen. Die Nähe hielt grob gerechnet so lange, wie im Osten Deutschlands das Gesellschaftsmodell bestand, das sich auch auf den Kopf der russischen Revolution berief. Dann wurde Lenin ins Exil geschickt, 200 Kilometer von seinem zeitweiligen Standort entfernt, als Dauerleihgabe ins Deutsche Historische Museum nach Berlin. Dort lag der Eislebener Lenin zunächst auf dem Rücken; inzwischen steht er im Foyer. Doch die Geschichte scheint noch nicht zu Ende zu sein: Es ist nicht mehr ausgeschlossen, dass man Lenin ins Mansfeld zurückholt.
Es war ein vornehmes Paar, das der historische Zufall da zusammengeführt hatte: der angeblich einzige Luther mit Barett und ein Lenin mit Weste, der darin eher bürgerlich als proletarisch wirkte. Für Luther war (und ist) es ein Heimspiel: Er wurde 1483 in der Stadt geboren und starb 1546 auch da. Sein von Rudolf Siemering geschaffenes bronzenes Abbild war zu seinem 400. Geburtstag in seinem Geburtsort aufgestellt worden; rechtzeitig zum großen Reformationsjubiläum 2017, von dem man sich auch in Eisleben einen Ansturm der Touristen erhofft, wurde es überholt und gewienert.
Lenin dagegen war in Eisleben ein Zugereister, einer zumal, der die Stadt leibhaftig nie besucht hat. Sein Bronzedenkmal kam am 25. Oktober 1943 hierher - als Raubgut und »Schrott«, von seinem Sockel gezerrt durch deutsche Soldaten in der sowjetischen Stadt Puschkin. In der Krughütte in Eisleben sollte die Plastik, die der Künstler Matwej Maniser entworfen hatte und die zwei Jahre nach Lenins Tod im Jahr 1926 aufgestellt worden war, zerschmolzen werden. Um den mörderischen Krieg fortführen zu können, brauchte das NS-Regime Metall. Kirchenglocken kamen da ebenso gelegen wie die immerhin fast drei Tonnen wiegende Skulptur des sowjetischen Staatsführers.
Der Lenin von Eisleben landete allerdings nicht im Schmelzofen; vielmehr überdauerte er den Krieg, und als Anfang Juli 1945 die zunächst als Befreier angerückte US-Armee wieder abzog und die Stadt an die Rote Armee übergab, wurden deren Soldaten von dem Denkmal empfangen, aufgestellt auf dem Plan, mit einem Flaschenzug auf ein Geviert aus Eisenbahnschwellen gehievt. Es war ein in Deutschland einmaliger Vorfall, der an sich schon einen Eintrag im Geschichtsbuch verdient hätte - wenn auch vielleicht nur einen kleinen: Der Revolutionsführer, verschont von der Zerstörung im Schmelzofen, begrüßt die Soldaten im Land des Feindes.
Die Geschichte, die in den folgenden Jahren zunächst in Eisleben, später in der ganzen DDR und weit darüber hinaus erzählt wurde, klang freilich ein gutes Stück heldenhafter. Lenin, so hieß es, war der Zerstörung nicht zufällig entgangen - er sei gerettet worden. Die Rede war von einem »unablässigen stillen Kampf«, den sowjetische Zwangsarbeiter und »klassenbewusste deutsche Arbeiter« der Montangesellschaft der Mansfeld AG 18 Monate lang geführt hätten. Sie hätten die immerhin 3,20 Meter große Skulptur unter Kohlen und Schrott verborgen; sie hätten die Sprengung oder Zerstörung per Schweißbrenner torpediert und sie so »bewusst« geschützt. Das Denkmal in der Stadt im Mansfeld, das seit den 1920er Jahren als »rotes« Revier galt, war damit mehr als nur ein Denkmal: Es galt als »Beweis unserer Freundschaft zum Sowjetvolk«, wie es in einer 1959 erschienenen Broschüre hieß.
Kein Wunder, dass Lenin Luther ab dieser Zeit in den Schatten stellte. Die Rednertribüne am 1. Mai »stand vor dem Lenin und nicht auf dem Markt«, sagt Roland Schinko, alteingesessener Eislebener, der Chef des Bauordnungsamts im Rathaus war und den Förderverein des »Kulturwerk« leitet. Am Lenindenkmal versammelten sich Pioniere und Angehörige der Kampfgruppen; er war »Mittelpunkt bei allen gesellschaftlichen Anlässen«, sagt Schinko. Nur hinter vorgehaltener Hand aber sei darüber gewitzelt worden, dass Lenin nur einige Schritte vom Intershop trennten. In der Hand in seiner Hosentasche, frotzelte man, halte er vermutlich zehn Westmark.
Ebenfalls nur hinter vorgehaltener Hand wurde die noch despektierlichere Geschichte erzählt, wonach der Mythos der heldenhaften Rettung nur erfunden worden sei. Der Journalist Andreas Stedtler, der dem Fall im Jahr 2006 ein akribisch recherchiertes Buch mit dem Titel »Die Akte Lenin« widmete, zitiert Berichte aus den 1950er Jahren, in denen solcherlei Äußerungen als »niederträchtige Geschichtsfälschung« gegeißelt wurden mit der infamen Absicht, der Arbeiterklasse und ihrer Partei »eins auszuwischen«. Die Zitate stammen von Robert Büchner, der eine zentrale Figur in der Geschichte des Lenins von Eisleben war: Eine von ihm geleitete Widerstandsgruppe soll an der Rettung beteiligt gewesen sein; als erster Nachkriegsbürgermeister organisierte er die Aufstellung im Juli 1945; als Mitarbeiter am Institut für Marxismus-Leninismus dokumentierte er später die Geschichte. DDR-weit publik wurde diese spätestens durch einen Aufruf von Bergleuten aus dem Bergbaurevier. Nachdem die Sowjetunion die geraubte Plastik im Jahr 1948 der Stadt Eisleben geschenkt hatte, wollten sie ihren Plan übererfüllen und mit dem so gewonnenen Kupfer die Schaffung eines Denkmals von KPD-Führer Ernst Thälmann ermöglichen, das dann auch in Puschkin aufgestellt wurde. Betriebe der gesamten Republik sollten sich dem Aufruf anschließen - und erfuhren so vom legendären Eislebener Lenin.
Freilich: Die Geschichte von dessen heldenhafter Rettung ist eben nur eine Legende, resümiert Stedtler nach seiner Recherche. Lenin habe auf dem Schrottplatz nie verborgen werden müssen; vermutlich waren technische Probleme dafür verantwortlich, dass er der Zerstörung entging - so wie zwei ähnlich große geraubte Antikenfiguren, die nach Kriegsende aus Eisleben nach Puschkin zurückkehrten. Es sei eine Legende gewesen, die für propagandistische Zwecke in der DDR ausgesprochen willkommen gewesen sei. Aber es war eben, so der Untertitel seines Buches, nur eine »Rettungsgeschichte mit Haken«.
Ob ein größerer Wahrheitsgehalt der Geschichte das Lenindenkmal vor dem Haken gerettet hätte, an den es am 9. Dezember 1991 gehängt wurde, darf freilich bezweifelt werden. In den Tagen zuvor hatte der Lenin vor einer neu eröffneten Filiale der Deutschen Bank gestanden. Dass er vom Sockel genommen wurde, lag aber nicht an einer Intervention kapitalistischer Banker, sondern an der grassierenden Denkmalstürmerei. So wie überall in der verflossenen DDR entledigte man sich auch in Eisleben der Geschichte - mit dem einzigen Unterschied, dass der dortige Lenin, anders als etwa sein Berliner Kollege, nicht in einer Sandgrube endete, sondern im Deutschen Historischen Museum: zunächst befristet auf fünf Jahre, inzwischen als Dauerleihgabe.
Hier könnte die Geschichte enden, und es wäre durchaus ein symbolträchtiger Schluss: Die Revolution ist nur mehr im Museum zu besichtigen, die Reformation steht derweil ungerührt auf dem Sockel und sorgt dafür, dass die Kassen klingeln. Jedoch: 25 Jahre nach Lenins Eislebener Demission scheint der Blick auf die Geschichte etwas milder geworden. Vor 15 Jahren noch hatten Genossen der PDS vergebens 3000 Unterschriften dafür gesammelt, Lenin aus dem Museum zurück zu holen. Vor zehn Jahren wurde die Idee eines Hoteliers noch milde belächelt, eine Gipskopie des Eislebener Lenins, die in einer Berliner Gartenkolonie steht, in den Garten eines Cafés am Plan zu hieven und es nach ihm zu benennen.
Kurz vor dem 100. Jahrestag der Oktoberrevolution jedoch scheint in Eisleben eine revolutionäre Situation herangereift: Der Wunsch, das Denkmal wieder in die Stadt zu holen, gewinnt an Schwung - und Wortführer ist ausgerechnet ein CDU-Stadtrat. Lenin, so sein nüchternes Kalkül, könne Touristen in die Stadt bringen, Reisende, die wegen Luther allein nicht ins Mansfeldische kämen.
Horst Tetzel registriert den Wandel in der Stimmung mit vorsichtiger Genugtuung. 2001 hat er noch vergebens für Lenins Rückkehr geworben; jetzt, sagt der LINKE, stehen die Chancen besser - obwohl es in der CDU auch gegenteilige Stimmen gibt und das Verhalten der SPD unvorhersehbar ist. »Solange die Mehrheit nicht sicher ist, stellen wir keinen Antrag«, sagt er. Zugleich schmiedet der Lokalpolitiker einen Plan. Mit einem Fuhrunternehmer hat er schon geredet. Im Februar wird der Eislebener Lenin von Berlin in die Schweiz ausgeliehen, für eine Ausstellung über »Die russische Revolution und die Schweiz«. Sie endet am 25. Juni. Auf dem Rückweg, sagt Tetzel, könnte der Lenin gleich nach Eisleben gebracht werden. Von Luther trennten ihn dann wieder nur noch 250 Schritte.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1036991.der-revolutionsfuehrer-in-des-reformators-kinderstube.html