nd-aktuell.de / 12.01.2017 / Kultur / Seite 14

Kakerlaken! Barrikaden!

Boris Schumatsky: «Die Trotzigen»

Irmtraud Gutschke

Willkommen in der Postmoderne« heißt es an einer Stelle des Buches. »Ohne die Philosophie der Postmoderne würde ich wohl noch in Russland leben«, schrieb Boris Schumatsky, geboren 1965 in Moskau, vor einiger Zeit in der »Neuen Zürcher Zeitung« unter dem Titel »Die Krise der Wahrheit«. Doch glücklicherweise habe »das poststrukturalistische Denken alle, die es wollten, aus den Fesseln nationaler Identitäten oder fixer Geschlechterrollen erlöst«.

Auflösung von Identitäten, davon handelt der Roman. Es mag mitunter so scheinen, als ob niemand mehr irgendetwas ernst nimmt, zumal die Jüngeren nicht. Sie schlängeln sich irgendwie durchs Leben, aber was sollten sie denn tun? Ihre Eltern hatten noch Überzeugungen von dem, was gut und richtig ist. Und immer mal wieder tauchen im Buch entschlossene ältere Frauen auf, die nicht wahrhaben wollen, dass ihre Erfahrungen der Kinder- und Enkelgeneration kaum mehr was nützen. Denn die haben immerhin schon so viel erlebt, dass sie keinen Glauben mehr an irgendeinen Fortschritt, an ein gesellschaftliches Ziel haben. Auch wenn sie auf Barrikaden steigen, wirkt es wie ein Spiel.

Trotz, Beharren auf Eigenständigkeit - nur das scheint ihnen geblieben zu sein. Manchen Lesern, gerade älteren, mag das nicht gefallen, sie wünschen sich Zielstrebigkeit von jungen Leuten. Aber es ist massenhafte Realität. Anna Iwanowna, die eigentlich Adelheid Spillner heißt, ist voller Ideale - und Abenteuerlust - aus Bayern nach Moskau gekommen. »Sie will helfen, macht ein Praktikum bei den Bürgerrechtlern, verteilt Lebensmittelpakete aus Deutschland …« Und landet am Ende bei irgendwelchen Fotosessions mit nackten Barbie-Puppen. Kunstaktionen sind immerhin noch ein Ausweg, wenn man nicht weiter weiß. Da stellt sie fest, dass sie schwanger ist …

»Heirate ich Anna Iwanowna oder nicht?«, überlegt Alexander Potjomkin auf Seite 37. Aber das ist nur wegen des Visums für Deutschland. Anna ihrerseits versteht gar nicht, warum jemand nach Deutschland will, wo es doch in Moskau gerade »so spannend« ist.

Bloß spannend? Für viele war es bitterernst und ist heute schon ins Vergessen gedrängt: Der Roman beginnt mit dem Putsch vom August 1991 in Moskau, als einige Funktionäre mit Hilfe der Armee den Zerfall der UdSSR aufhalten wollten, aber das Gegenteil erreichten. Jelzin brachte sich an die Macht, verbot die KPdSU, betrieb die Auflösung der Sowjetunion und trug durch seine Politik der Privatisierung maßgeblich zur Entstehung der postsowjetischen Oligarchie bei. Als das Parlament sich 1993 seinen Bestrebungen widersetzte, löste er es per Dekret auf, woraufhin die Volksdeputierten ein Amtsenthebungsverfahren anstrengten und den Vizepräsidenten Alexander Ruzkoi als Staatsoberhaupt vereidigten. »Verfassungskrise« heißt es offiziell, doch das Land stand am Rande eines Bürgerkriegs. Da werden - man erlebt es im Roman - Barrikaden gebaut, gibt es auch Feindseligkeiten zwischen den Demonstranten. »Demokraten« gegen »Rotbraune«, Kommunisten und Nationalisten werden in einen Topf geworfen. Jelzin hat die Armee hinter sich, Panzer beschießen das Weiße Haus.

Wie man schon in Sergej Lebedews »Menschen im August« sehen konnte, braucht es offenbar Romane, um sich die Wurzeln heutiger Konflikte in Erinnerung zu rufen. So hat auch Boris Schumatskys Buch einen ernsten, einen bitterernsten Hintergrund. Auch wenn Sascha Potjomkin in manchem autobiographisch angelegt ist, Boris Schumatsky ist mit seinen Gestalten nicht zu verwechseln. Er blickt weiter als sie; es sind ja auch schon etliche Jahre vergangen. Aber aus ihrer Hilflosigkeit kann er sie nicht erlösen. Zumal der Westen, wie auch Sascha und sein Freund Denis bei einem Besuch in Berlin erleben müssen, nicht hält, was er verspricht.

Scharfsichtigkeit und Witz - das kann man Boris Schumatsky zugutehalten. Sein Roman steckt voller genau beobachteter Details, und er versteht sich auf Situationskomik. Es gibt einige »Längen«, was die Szenen in einem besetzten Haus in Berlin und »die Leiden des jungen Potjomkin« (Saschas Liebesverwirrungen) betrifft, aber wer genau liest, wird auch mit manchen sonst verborgenen Informationen beschenkt.

Einmal taucht sogar Putin auf, aber das ist 1993 und eher ein Gag. Geheimdienste sind involviert, wie anders als auf obskure Weise. Immer wieder trügt der Schein. Da spielt es schon keine Rolle mehr, dass Sascha sich als Jude und Denis sich als Schwuler ausgibt, um in Deutschland bleiben zu können. Es klappt nicht, sie müssen zurück in ein Moskau, in dem vieles schon nicht mehr ist, wie es einmal war. Dabei ist es nur anders schlecht, nicht besser geworden.

Boris Schumatsky: Die Trotzigen. Roman. Blumenbar Verlag. 383 S., geb., 20 €.