nd-aktuell.de / 13.01.2017 / Politik / Seite 3

Paris fühlt sich in der Pflicht

Frankreich zählt als Staatsbürger Millionen Muslime und Hunderttausende Juden, die weitgehend konfliktfrei miteinander leben - Plädoyer für Zwei-Staaten-Lösung

Ralf Klingsieck, Paris

Frankreich ist seit vielen Jahren für den Nahostkonflikt zwischen Israel und den Palästinensern eine Art Nebenkriegsschauplatz. Es ist ziemlich sicher das Land in Europa mit den meisten Muslimen und den meisten Juden. Da Zählungen nach Glaubenszugehörigkeit aber verboten sind, kann man ihre Zahl nur schätzen: Vier bis sechs Millionen französische Muslime stehen 400 000 bis 600 000 französischen Juden gegenüber.

Auf beiden Seiten gibt es übergroße Mehrheiten, die konfliktlos miteinander leben und auf eine friedliche Lösung im Nahen Osten hoffen, aber auch extrem virulente Minderheiten, die den Konflikt nur zu gern auch auf französischem Boden gewaltsam austragen möchten. Allerdings sind antisemitische Ausfälle und Akte in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen, während es als populistische Reaktion auf den Terror des Islamistischen Staates zunehmend Ausschreitungen gegen Muslime und ihre Moscheen gegeben hat.

Im Zusammenhang mit den Terroranschlägen vom Januar 2015 und der blutigen Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt in Paris, bei dem vier Menschen ermordet wurden, gaben Israels Premier Benjamin Netanjahu und andere Scharfmacher in Israel einmal mehr die Losung aus, die Juden sollten Frankreich verlassen und »nach Hause« kommen. Als Reaktion auf die jüngste Initiative Frankreichs, die Suche nach einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts auf der Grundlage einer Zwei-Staaten-Lösung neu zu beleben, hat der israelische Verteidigungsminister Avigdor Lieberman erklärt: »Es ist an der Zeit, den französischen Juden zu sagen: Frankreich ist nicht euer Land, verlasst Frankreich und wandert nach Israel aus.«

Zu der internationalen Nahostkonferenz, zu der die französische Regierung jetzt rund 70 Länder nach Paris eingeladen hat, sagte Lieberman: »Es handelt sich nicht um eine Friedenskonferenz, sondern um ein Tribunal gegen den Staat Israel.« Die Auswanderung sei die einzige mögliche Antwort auf diese »Intrige«.

Auf derlei undiplomatische Einmischungsversuche reagiert man in Paris offiziell nicht, um nicht Öl ins Feuer zu gießen, aber für die bilateralen Beziehungen ist das nicht gerade förderlich. Bis in die 70er Jahre war die offizielle französische Außenpolitik eindeutig pro-israelisch ausgerichtet, während es Unterstützung für die Sache der Palästinenser fast nur auf Ebene linker Parteien und Organisationen gab. Erst unter dem ersten sozialistischen Präsidenten François Mitterrand ab 1981 wurde die Außenpolitik austariert.

Seither versucht das offizielle Paris, zu beiden Seiten gleichermaßen freundschaftliche Beziehungen zu pflegen als auch kritische Distanz zu wahren. In der Praxis hat dies den französischen Spitzenpolitikern mehr Kritik als Beifall eingebracht. Vor allem aus Israel und seinen immer weiter nach rechts rückenden Regierungen wird Frankreich oft und scharf verurteilt, weil man jeden, der nicht eindeutig mit Israels Führung ist, als Gegner abstempelt und ihm Antisemitismus unterstellt.

Vor allem, wenn Paris einmal mehr im UN-Sicherheitsrat gegen den israelischen Siedlungsbau in den besetzten Palästinensergebieten gestimmt oder sich anderweitig kritisch dazu geäußert hat, ist »Frankreich-Bashing« angesagt. Trotzdem hält man im Elysée, wo der Präsident die Außenpolitik bestimmt, als auch am Quai d'Orsay, wo das Außenministerium sie praktisch umsetzt, daran fest, immer wieder neue Initiativen für eine Friedenslösung anzustoßen. Man gibt sich überzeugt, dass aufgrund der großen Zahl muslimischer wie jüdischer Bürger kein Land in Europa so prädestiniert wie Frankreich ist, den anderen in dieser Sache voranzugehen und sie mitzuziehen.