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Die Kiez-Soziologin von der Reeperbahn

Ilona Kiss hält nichts von Massenevents - sie bietet Führungen durch die Kriminalgeschichte St. Paulis an

  • Volker Stahl, Hamburg
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer mit Ilona Kiss über den »Kiez« schlendert, erfährt zuerst, dass St. Pauli nicht nur ein Amüsierviertel ist, sondern vor allem ein Wohnort. Das Viertel rund um die Reeperbahn ist dreimal so dicht besiedelt wie andere Stadtteile Hamburgs. Auch die Anbieterin des »Kriminal-Spaziergangs« wohnt dort. 1962 im oberfränkischen Marktredwitz geboren, in München aufgewachsen, verschlug es sie mit ihrer Familie Ende der 1960er Jahre nach Hamburg.

Seit 1986 lebt die studierte Soziologin in einer kleinen Seitengasse zwischen Davidwache und Hafenstraße. In dieser Zeit wandelte sich der Stadtteil von einem Schmuddelort zu einer begehrten Wohnlage. »St. Pauli ist nach wie vor ein sehr lebendiges Viertel, das viele Veränderungen durchläuft«, sagt Ilona Kiss, die besonders die Vielfältigkeit von Kommerz bis zu gelebter Nachbarschaft schätzt. »Es ist jedoch nicht zu leugnen, dass gerade diese Nachbarschaft durch immense Mietsteigerungen gefährdet ist.« Wer wenig Geld habe, ziehe irgendwann weg. Ein weiterer Faktor sei die zunehmende »Verballermannisierung« durch Discounter, Kioske und Großveranstaltungen wie den »Schlagermove« oder »Trash-Führungen« á la Olivia Jones, kritisiert Kiss: »Das alles zielt nur auf Masse ab und dient lediglich der Gewinnmaximierung, repräsentiert St. Pauli aber nicht als Wohn- und Vergnügungsviertel.« Der Kiez drohe zu einem Museumsdorf mit Spaßfaktor zu werden.

Ein bisschen profitiert auch Ilona Kiss von dem Hype. Wenig spaßig geht es allerdings auf den Führungen durch die Kriminalgeschichte St. Paulis zu, die Kiss mit ihrer Agentur St. Pauli Landgang seit einigen Jahren anbietet. Die Tour führt durch die Hopfenstraße, wo die berüchtigte »Schweden-Selma« 1907 Matrosen erst betrunken machte und dann übel abzockte, über den Spielbudenplatz, wo sich in den 1920er Jahren der Ganoventreffpunkt »Grenzfass« befand, bis hin zur Schmuckstraße mit dem berüchtigten Chinesenviertel, dem die Nazis ein brutales Ende bereiteten. Eher skurril ist die Geschichte des ersten Zuhältersyndikats, das sich ab 1926 als eingetragener Verein unter dem Namen »Spar-, Gesellschafts- und Kegelclub Fidelio« organisiert hatte. Die Frauen mussten das Geld, das sie ihren Freiern abgenommen hatten, im Vereinslokal an der Detlev-Bremer-Straße in die Sparfächer ihrer Luden stecken.

Erstaunlicherweise buchen vor allem Anwälte, Richter und Polizisten, also Leute vom Fach, die Führungen. Zuletzt kam auch eine Anfrage vom Richterbund Nordrhein-Westfalen. Diese Klientel kennt in der Regel die »Gesetze«, die in St. Paulis Unterwelt herrschen. Otto-Normal-Touristen bekommen von Ilona Kiss Aufklärerisches zu hören: »Den Kult um ehemalige Kiez-Größen finde ich bescheuert. Zuhälter sind Arschlöcher, die auf Kosten von Frauen leben, die sie ausbeuten.«

Informationen im Internet unter: www.stpauli-landgang.de

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