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»Wir wollten etwas heilen«

Alice Hofman über eine idyllische Stadt in den USA und einen alten Fluch

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

In Sidwell, Massachusetts, geht die Angst um. Von einem geflügelten Monster wird gemunkelt. Einige halten es für einen Vogel, größer als ein Adler, andere für eine Riesenfledermaus, gar einen Drachen. Oder ist es gar ein Mensch mit Flügeln?

Das Mädchen, das in diesem Buch die Erzählerin ist, weiß mehr. Aber Twig darf es nicht sagen, deshalb hält sie sich von anderen Kindern fern. Der Mutter tut es leid, dass sie so einsam ist, aber als eine Familie ins Haus nebenan einzieht, verbietet sie der Tochter strikt den Umgang. Ja, sie ist nun sogar selbst von Furcht befallen, weil in dem inzwischen verfallenen Haus der neuen Nachbarn einst eine Hexe wohnte. Die ist, wie Twigs Mutter meint, verantwortlich für den Fluch, unter dem alle Söhne der Familie leiden.

Twigs Geheimnis - wir wollen es nicht verraten. Die Geschichte, die Alice Hofman auf spannende Weise erzählt, hat an diesem Punkt etwas Märchenhaftes. Real aber ist, wie leicht sich Menschen durch böse Gerüchte aufwiegeln lassen, wie zusammen mit Furcht Gewalt hochkocht. In so eine Atmosphäre darf man sich nicht hineinziehen lassen - das ist eine wichtige Lehre, die junge Leser aus der Lektüre mitnehmen können.

Was wir mit Twig erleben, das ist verantwortliches Handeln. - Und die Not der Einsamkeit. »Ich bin, wie ich bin, hätte ich so gerne geschrien. Mein Leben ist anders als eures, aber ich bin Twig Fowler, und ich habe was zu sagen!« Neben dem Gerede über das Ungeheuer ballt sich in Sidwell noch alles Mögliche zusammen: Jemand meint, Kleidungsstücke seien von der Leine gestohlen worden. Anderswo verschwinden Einweckgläser. Twig sah jemanden durch das Dickicht rennen.

Und dann tauchen auch noch rätselhafte Graffitis auf: »Ein gespraytes Maul voll spitzer, scharfer Zähne. Und darunter eine Inschrift, die wie ein Aufschrei klang: HÄNDE WEG VON UNSEREM ZUHAUSE.« Da rück über all dieser Hysterie für die Bewohner von Sidwell fast in den Hintergrund, dass sie ihren Wald verlieren könnten, weil der Eigentümer diesen als Bauland verkaufen will …

Zweite Lehre: Gemeinsam ist man stärker. Gegen das Verbot der Mutter freundet sich Twig mit der etwa gleichaltrigen Julia aus dem Nachbarhaus an. Die hat eine schöne ältere Schwester, Agathe, und Eltern, die Ärzte und sehr vernünftig sind. Es sind nicht die einzigen besonnenen Leute im Ort. Freilich muss ein Kind vorsichtig sein, wenn es Nachforschungen anstellt und dabei selbst noch etwas zu verbergen hat.

Dritte Lehre: Freundlichkeit. Verhärte dich nicht, wenn du in schwieriger Lage bist. Versuche, anderen zu helfen. Hüte dich, voreilig Böses zu unterstellen. Denn dabei nistet sich Ungutes auch in dir selber ein.

Der Fluch: Ja, den gibt es offenbar wirklich. Alljährlich ist eine Theateraufführung die Attraktion, bei der die »Hexe von Sidwell« von den Einwohnern umgebracht wird. Twig und Julia finden heraus, wer die Hexe wirklich war. Könnte man den Fluch vielleicht bannen? Es kommt im Buch der Moment, da ein bedrohliches Feuer ausbricht und unerwartete Hilfe naht. Später werden Kräuter verbrannt und Sprüche gemurmelt. Wobei das Märchenhafte sich eben mit einem wichtigen Ziel verband: »Wir wollten etwas heilen, wollten etwas wiedergutmachen …«

Alles wird gut, und am Schluss gibt es noch das geheime Apfelkuchen-Rezept von Twigs Mutter, die im Übrigen auch ihren Teil vom Glück abbekommt.

Alice Hofman: Nachtvogel oder Das Geheimnis von Sidwell. Aus dem Amerikanischen von Sibylle Schmidt. Sauerländer. 207 S., geb., 12,99 €.

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