Kaffeeklatsch im Neubaublock

  • Andreas Gläser
  • Lesedauer: 3 Min.

Hurra, ich darf bei einem Freund aus alten Tagen bei seinem Geburtstagskaffeeklatsch auf der Couch sitzen und vielleicht ein bisschen wegnicken, und eventuell werde ich mir nach dem Kaffeetrinken die Dreijährige schnappen und mit ihr Drachensteigen gehen; auch wenn Selma noch nicht so viel spricht. Na immerhin sind ihr kesse Widerreden nahezu fremd. Sie weiß auch nicht, dass wir keine amtliche Drachenjahreszeit haben. Egal, in diesem Neubauviertel gibt es schon immer zu wenig Vegetation und zu viel Wind; seit Jahrzehnten, über alle Systeme hinweg.

Als ich mit dem Rad im Plattenbauviertel meiner Nachmittagsträume anrolle, höre ich den Gastgeber zu seiner Madame verräterisch durch ein offenes Fenster labern: »Will der sein Rad etwa vorm Haus abstellen?« Thorsten erteilt seiner Frau den Befehl: »Monika, schließ ihm den Keller uff!« Sie widerspricht: »Nee!« Ich rufe betont freundlich: »Tach Thorsten!« Keine Antwort. Erst wild parken, dann laut rufen, schlimm.

Mein Gastgeber zieht die Gardine beiseite, er erspäht das Rad und scheint die Straße nach flanierenden Ex-Stasis abzusuchen. »Juten Tach!«, wiederhole ich etwas gekünstelt. Er wird persönlich: »Komm rin!« Heute ist sein Ehrentag, deshalb trägt er seinen Befehl nur als freundlichen Sing-Sang an mich heran: »Kannste dir bitte vor der Begrüßung die Hände waschen?« - »Ick kann och duschen.« - »Quatsch nich.« - »Du bist so jut zu mir, obwohl ick stinke, wie alle Altbaubewohner.« - »Ja, deshalb jibt’s zwischen Lichtenberg und Friedrichshain och bald nen Antivirenschutzwall.« Thorsten lacht, ich entspanne. »Herzlichen Jlückwunsch zum Jeburtstach!« - »Ach, tu nich so.«

Im Wohnzimmer schweigen sich die Enkelin Selma und die Oma Erika kultiviert aus. » Wohin darf ich mich setzen?«, frage ich. Monika fragt zurück: »Willste Kaffee?« - »Ja, aber.« Die Oma hält ihre Tasse genau über eine Tasse, die wohl die meine sein soll. Monika zischt genervt. »Oma, warte.« Die Angesprochene fordert Kuchen: »Ick probier die Käsetorte?« - »Muss ick erst anschneiden, Oma. Ach, mach doch och mal wat.« - »Moni-Mausi, ick bin Besuch.« - »Oma, du bist Familie.« - »Jenau, und Selma kommt auf Omas Schoß!«

Sie zerrt an ihrer Enkelin herum und drückt ihr die Frisur ins Gesicht, die wie ein feuerroter Playmobilhelm auf ihren Kopf montiert zu sein scheint. Selma windet sich nach Leibeskräften und flüchtet zu mir. Die Oma ist angefressen, denn erst bringe ich sie fast um den ersten Kaffee und nun auch um ihre Enkelin. »Selma, der Onkel hat keine Haare mehr. Komm zur lieben Oma!« Ich entgegne: »Erika-Mausi, noch Käsekuchen?« Sie freut sich und antwortet: »Ick nehm den von Selma.« - »Haste se jefracht?« - »Die kann noch nich sprechen.« Ich absolviere den Test: »Selma, wollen wir nachher Drachensteigen gehen?« Sie sagt: »Ja.« Oh, hoffentlich hat sie dann keine Lust mehr. Ist zu schön hier.

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