nd-aktuell.de / 02.02.2017 / Gesund leben / Seite 10

Verlorene Lebensjahre

Das hohe Niveau in der deutschen Herzmedizin bringt nicht immer adäquate Ergebnisse

Ulrike Henning

Laut dem aktuellen Herzbericht wurden 2015 mehr Menschen als im Vorjahr in Kliniken aufgenommen. Sie leiden an der koronaren Herzkrankheit (KHK), an Rhythmusstörungen, Klappenerkrankungen, Herzschwäche oder angeborenen Herzfehlern. Die Patientenzahl wächst also. Gleichzeitig überleben immer mehr Menschen diese Leiden.

Auf der Habenseite stehen weniger stationäre Aufnahmen wegen KHK/Herzinfarkt. Auch die Zahl der Sterbefälle durch Herzerkrankungen insgesamt ist gesunken. An einem Infarkt starben 2014 48 181 Menschen, 2012 waren es 52 516, 1990 noch 85 625. Hier sind theoretisch weitere Verbesserungen denkbar, denn in 40 Prozent der Kliniken, die diese Notfallpatienten versorgen, gibt es kein Katheterlabor. Mit einem Herzkatheter kann zunächst untersucht und sofort im Anschluss das verschlossene Gefäß mit einem Ballonkatheter aufgedehnt werden.

Während an einer Herzinsuffizienz und an den verschiedenen Formen der KHK (Infarkt, Angina pectoris) heute 30 Prozent weniger Menschen sterben als 1990, zeigt sich bei Klappenkrankheiten und Rhythmusstörungen ein Negativtrend. Hier liegt die Sterbeziffer (Todesfälle pro 100 000 Einwohner) 154 Prozent bzw. 85 Prozent höher als 1990. Das liegt mit daran, dass diese Leiden heute eher diagnostiziert werden und die Menschen einige Jahre älter werden. »Viele Patienten, die heute mit einer geschädigten Herzklappe behandelt werden, wären früher etwa an einem akuten Herzinfarkt gestorben.«

Noch immer behaupten die ostdeutschen Bundesländer die Spitzenposition bei der Herz-Kreislauf-Sterblichkeit. Die niedrigste Sterbeziffer weist Berlin mit 169 Gestorbenen pro 100 000 Einwohner auf, am anderen Ende der Skala steht Sachsen-Anhalt mit 391 Todesfällen.

In den neuen Bundesländern wie auch im Saarland ist die Sterblichkeit an akutem Herzinfarkt weiterhin am höchsten. Die Ursachen sind zu ahnen: Einerseits finden sich in diesen Ländern auch die wichtigsten Risikofaktoren häufiger: Rauchen, Diabetes, Bluthochdruck oder Übergewicht. Noch weiter im Hintergrund zeigen sich zumindest im Osten die entsprechenden sozialökonomischen Faktoren. Bei fehlenden Schulabschlüssen belegen die östlichen Länder die letzten Plätze, mit Berlin in der Mitte der Gruppe. Ein ähnliches Bild bei der Arbeitslosigkeit, hier sind zusätzlich Berlin und Bremen in der Schlussgruppe.

Aber selbst unter den neuen Bundesländern gibt es Unterschiede. In Thüringen, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern ist die Sterbeziffer für den akuten Myokardinfarkt eine deutliche Stufe niedriger als in Brandenburg und Sachsen-Anhalt. In Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern kommen andererseits auf einen Kardiologen deutlich mehr als 30 000 Einwohner, in Sachsen-Anhalt und Brandenburg sind es unter 28 000. Nachdem sich diese Entwicklungen seit Jahren ähnlich darstellen, möchte man erwarten, dass hier - vielleicht nach noch genauerer Untersuchung - politische Schlussfolgerungen gezogen werden.

Aber schon bei der exakten Bestimmung hinderlicher Faktoren hält sich der Enthusiasmus in Grenzen. So sah es fast aus, als würde Sachsen-Anhalt sein regionales Infarktregister (RHESA) kaum drei Jahre nach seinem Start wieder verlieren, weil beantragte Fördergelder nicht gewährt wurden. Nun haben zwei Ausschüsse des Landtages eine Alternativfinanzierung bis 2019 beschlossen. Wird Anfang März der Gesamthaushalt des Bundeslandes entsprechend verabschiedet, könnten mit den Registerdaten Krankheitsursachen genauer erkannt werden.

Andererseits konnte die Infarktsterblichkeit in manchen Bundesländern schon gesenkt werden, darunter deutlich auch in Sachsen. Thomas Meinertz vom Vorstand der Deutschen Herzstiftung führt das auf »verbesserte Abläufe im Rettungssystem« zurück, auch auf mehr Wissen über Infarktsymptome. Er sieht jedoch einen großen Nachholbedarf bei der Prävention. Hier stoßen die Fachärzte an Grenzen des föderalen Systems: Jedes Bundesland macht eigene Pläne, hat eigene Referenten - und offenbar auch verschiedene Auffassungen über kontinuierliche Finanzierung bis hin zur Lehrplangestaltung: »Der Biologieunterricht vermittelt Wissen über Pantoffeltierchen, aber nicht, wie der menschliche Körper funktioniert«, merkt Kardiologe Meinertz an.

In vielen Feldern ist die Versorgung der Herzkranken in der Bundesrepublik sehr fortgeschritten. Im Widerspruch dazu stehen aber Daten aus europaweiten Studien, in denen ebenfalls die Sterblichkeitsraten zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen insgesamt und speziell zur KHK unter die Lupe genommen wurden. Danach liegt die Bundesrepublik gleichauf mit Griechenland und Finnland, aber deutlich hinter Frankreich, den Niederlanden, Spanien und Großbritannien. Betrachtet wurde ein Zeitraum von zehn Jahren. Die Briten mit ihrem stark gebeutelten, rein staatlichen Gesundheitssystem senkten die Sterblichkeit bei den Männern um 42 Prozent, die Deutschen um knapp 28 Prozent.

Auch in einem weiteren Ländervergleich schneidet Deutschland schlecht ab: Hier geht es um verlorene gesunde Lebensjahre (DALYs) wegen Tod oder Erkrankung pro 1000 Personen. Hier zu Lande sind das 67 sogenannte DALYs bei den Herz-Kreislauf-Störungen, in Frankreich 40, in den Niederlanden 42. Warum führt der hohe deutsche Einsatz bei Diagnose und Therapie nicht zu einer entsprechenden Minderung der Sterblichkeit? An der Prävention, die weit vor der Krankheitsentstehung ansetzt, kommen inzwischen auch Fachärzte und Spezialisten nicht mehr vorbei. Doch ihre Fürsprache ist noch nicht deutlich genug. Bei gesunder Schulspeisung oder mehr Sportangeboten für jung und alt herrscht in Deutschland nach wie vor Kleinstaaterei mit zu wenigen vorbildlichen Einzelprojekten. Auch die Bundespolitik hält sich bei bei Werbeverboten für Fettes und Süßes zurück, ebenso bei der Aufwertung der »sprechenden Medizin«, die von eigenverantwortlichen Patienten ausgeht.

Der Herzbericht gibt jährlich einen Überblick über Versorgung und Sterblichkeit bei den wichtigsten Herzerkrankungen. Die Deutsche Herzstiftung und mehrere ärztliche Fachgesellschaften stellten ihn in der vergangenen Woche in Berlin vor.