nd-aktuell.de / 02.02.2017 / Kultur / Seite 17

Die Schatten der Dinge

Jan Kuhlbrodt erzählt kunstvoll über Enttäuschung und Verlorenheit

Irmtraud Gutschke

Wir müssten nur ordentlich zuhören« - so hatte Schroth seine Diplomarbeit im Fach Sozialwissenschaften begonnen, in der er zur Freude seiner Gutachter in Frankfurt (Main) dem Leben seines Vaters nachgegangen war. Die Professoren ahnten nicht, wie viel Phantasie (und womöglich verdeckte Anpassung an ihre Erwartungen) da im Spiele war. Der Sohn ließ den Vater auswandern, »als berge die Luft um Chemnitz einen Keim, einen Erreger, der über die Atmung und über die Blutbahn in die Gehirne der Bewohner eindringt und sie zum Auswandern zwingt«, so hatte er in seiner Arbeit geschrieben, die im Roman freilich nur eine winzige Episode ist.

Jan Kuhlbrodt, 1966 in Chemnitz geboren (so steht es im Klappentext, in Wahrheit hätte es Karl-Marx-Stadt heißen müssen, denn Chemnitz galt bis 1953 und ab 1990 wieder), hat ebenso wie sein Ich-Erzähler Philosophie und Soziologie in Frankfurt am Main studiert. Nach seinem Studium am Literaturinstitut Leipzig, wo er jetzt auch als Gastprofessor lehrt, veröffentlichte er immerhin schon zwölf Bücher. »Das Modell« ist ein kunstvoller Roman - worüber?

»Wir müssten nur ordentlich zuhören« - die Aufforderung mag auch an den Leser ergehen, der Vergnügen an diesem Buch haben wird, wenn er selber - wie der Autor - Freude an Geistesarbeit hat. Hat Schroth seinen Freund Thilo umgebracht? Wir dürfen es glauben. Und wir dürfen zweifeln.

Auf der ersten Seite liegt Thilo unter der von ihm geschaffenen Stahlskulptur, auf Seite 12 bekennt Schroth »an Trägern und Schrauben manipuliert« zu haben, so dass Thilos Skulptur kippen und ihn treffen konnte, nicht musste. Wir lesen von Schmerz und Zorn: Der Ich-Erzähler hatte geglaubt, dass sie Freunde seien - auch dann noch, als Thilo ohne ihn »in die Staaten« ging und keinerlei Lebenszeichen von ihm kam. »Wir bleiben in Kontakt«, hatte der Abreisende versprochen. Da verlegte sich der Zurückgebliebene irgendwann darauf, »unseren Kontakt als etwas Metaphysisches zu interpretieren, eine innere Verbindung, die unabhängig von den Geschehnissen ewig bestünde«. Ach, er wird nicht der Einzige sein, der sich mit Vorstellungen schützt.

Doch nun war Thilo als Künstler nach Frankfurt am Main gekommen, um eine Ausstellung zu präsentieren, und hatte gar nicht daran gedacht, seinem Freund eine Nachricht zu schicken. Ein Traum brach zusammen. Verrat! Oder schlimmer noch: »Thilo hatte mich benutzt. Als Werkzeug, als Diener, der ihm die Lektüre schwieriger Texte abnahm …« - So spricht enttäuschte Liebe.

Ordentlich zuhören: Unter dem Erzählen ist eine nicht erzählte Geschichte. Ihr auf die Spur zu kommen, wird einen phantasiebegabten Leser reizen. Wir können nur mutmaßen, sehen aber, dass man aus diesem Stoff ganz verschiedene Romane machen könnte. Seit wann ist Schroth so ein Einsamer, Verlorener? Immer schon oder hat ihn Thilo dazu gemacht. »Vielleicht ist das, was wir Freundschaft nennen, etwas, das nur wie Freundschaft aussieht, eine zufällige Begegnung, den Gesetzen der Physik geschuldet, die wir so lange vor uns hin formulieren, bis sie einen Sinn ergibt, eine Bedeutung erhält, eine Funktion« … weil wir »es uns nicht eingestehen wollen, die Schatten der Dinge mit Spiegeln verwechselt zu haben«.

Sinnieren, definieren und kategorisieren - philosophische Erwägungen zuhauf. Dabei war das hochgeistige Studium für den Ich-Erzähler kein Sprungbrett zu Höherem gewesen. Als Fensterputzer betrachtet er nun die Welt und spricht von sich als »Schwemmgut«. Am Schluss sehen wir ihn auf einem Stuhl vor dem Haus seiner Mutter sitzen. Hatte es da nicht mal ein »Aufblitzen des kommunistischen Paradieses« gegeben? Absurd, ironisch, sinnend, melancholisch, bitter - extrem verdichtet ist diese Prosa. Da wäre es doch schade, die vielen Verkettungen aufzulösen und daraus im Kopf eine banale Geschichte zu machen.

Jan Kuhlbrodt: Das Modell. Roman. Edition Nautilus. 110 S., geb., 16 €.