nd-aktuell.de / 06.02.2017 / Montagmorgen / Seite 14

Neulich bei Neuschnee

Volker Surmann

Samstag, Schneenacht, 2.30 Uhr. Berlin hat Neuschnee.

»Ist es nicht fantastisch, der Schnee macht alles still. Deckt alles zu. Völlige Stille!«, begeistert sich eine junge Frau in silberglänzenden Leggins und Oversize-Mantel gegenüber ihrem Begleiter. »Ich liiiieeeebe Stille!«, schreit sie, und liefe sie nicht gerade zum Berghain, ich würde es ihr sogar abnehmen.

Hier im Umfeld der Weberwiese, wo Nacht für Nacht unzählige Partyfans anlanden, herrscht Glückseligkeit auf frisch geröteten Gesichtern. Spanische Technojünger stecken ihre Vollbärte in verschneite Autodächer. Eine Gruppe französisch sprechender Mädchen zaubert hell giggelnd einen Chor aus Schneengeln auf die Wiese, ein bisschen sieht es aus wie nächtliches Horizontalyoga, was sie dort tun. Betrunkene Hipster rollen Schneekugeln über die Weberwiese und schießen Selfies with Snowmen auf ihre Instagram-Accounts. Winter macht die Menschen toll.

An der Kreuzung mit der Straße der Pariser Kommune steht ein Streufahrzeug auf dem Radweg. Die Ampel ist rot, aber selbst als sie auf Grün schaltet, bewegt es sich nicht vorwärts. Der Fahrer ist eingeschlafen. Die Rotphasen dieser Ampel sind gnadenlos. Ich klopfe einmal an die Scheibe. Der Fahrer fährt hoch und dann verschreckt weiter. Vom Ort seines unfreiwilligen Nickerchens zeugt danach nur noch ein halbkreisförmiger Hügel aus Rollsplit auf dem Radweg.

Unter den verschneiten Linden der Karl-Marx-Allee steht eine Frau und versucht, einen der historischen Kandelaber, die gerade die frisch überzuckerten Lindenzweige in verwunschenes Winterlicht tauchen, zu fotografieren. Mit Blitz. Sie versucht, Licht mit Blitz zu fotografieren. Winter macht die Menschen doof. Aber schön sieht’s trotzdem aus.

In meiner Straße steht ein Mann schwankend neben einem zugeschneiten Auto und hält sich mit einer nackten Hand im Neuschnee auf dem Dach fest. Vielleicht ist ihm schwindelig. Erst im Näherkommen sehe ich, was er eigentlich tut. Er versucht, das eingefrorene Schloss seines Autos aufzupinkeln. Aber so recht will es ihm nicht gelingen. Wahrscheinlich ist auch das besser so, er schwankt doch gewaltig und das Zielen klappt auch nicht so recht. Aber seine Hose wird schon wieder trocknen. Oder gefrieren. Und er einen ziemlich bepissten Autoschlüssel in die Taschen gleiten lassen. Sein Kumpel steht auf dem Gehweg und verlangt von ihm, aufzugeben: »Alta, das is gar nisch dein Auto! Dein Auto is schwarz, dies is voll weiß. Außerdem fährs du Mersedes, dies ist bloß Golf oder so Scheise.« Winter macht die Menschen blöd im Kopf.

Die beiden ziehen weiter. Morgen wird ein unschuldiger Autofahrer hier vor einem völlig eisverklebten Türschloss stehen und beim Versuch, es zu öffnen, auf einer spiegelglatten Pfütze vor der Fahrertür ausrutschen. Dann wird er den Winter lauthals verfluchen. Aber das ist morgen. Noch herrscht hier der Frieden einer Berliner Winternacht.