Fünfzehn Zentimeter zu viel

Henning Zimmermann ist Schiedsmann in Berlin und versucht, zwischen Nachbarn zu vermitteln

Für Sabine* und Andreas* begann ihr Leben im Speckgürtel Berlins sehr harmlos. Sie hatten, wie viele in ihrem Alter, Ende der 1990er Jahre genug vom Dichtestress der Großstadt. Hatten Geld angespart, den Rest besorgte ein Kredit und so gehörten ihnen bald 1000 Quadratmeter Brandenburger Land im Tarifbereich C, der äußersten Reisezone im Berliner Nahverkehrsnetz. Sie waren einst Pioniere der Besiedlung des Umlandes. Rechts neben ihnen lebte eine ältere Frau mit Hund, letzterer eine Töle zwar, aber was war dagegen einzuwenden, wenn der Westhighland-Terrier fremd Geglaubte vom Gartenzaun vertrieb? Rechts neben ihnen war Platz, sehr viel Platz. Das Grundstück lag brach, jahrelang. Hohe Knallerbsensträucher trennten das eine Anwesen vom anderen. Jetzt, 16 Jahre später, haben Sabine und Andreas das volle Programm aufgefahren: Ein blickdichter Holzzaun, Koniferen, Jalousien und Vorhänge, eine Pergola mit üppig bewachsenen Rosen umrandet die Seite ihrer Terrasse, die die Nachbarn einsehen können - konnten. »Wir fühlten uns unter Dauerbeobachtung«, sagt Sabine, während Andreas den Aktenordner aus dem Arbeitszimmer holt, auf dem der Name der Nachbarsfamilie steht, die vor zehn Jahren das Grundstück nebenan kaufte. Bei denen sie anfangs zum Essen eingeladen waren und die sie jetzt wieder siezen und mit denen sie um fünfzehn Zentimeter Hecke streiten. Nicht ein Gericht, sondern ein Schiedsmann soll im Heckenzwist zwischen ihnen vermitteln. Das ist in Brandenburg so vorgeschrieben. Rechtsstreitigkeiten, sogar Strafsachen, wenn sie ein bestimmtes Strafmaß nicht überschreiten, regeln in Brandenburg ehrenamtliche Schiedsmänner und -frauen, keine Amtsgerichte. Jedenfalls, solange sich die Beteiligten auf einen Schiedsspruch einigen können.

Henning Zimmermann hätte gerne so viel zu tun, wie seine Brandenburger KollegInnen. Im vergangenen September war er zum Bürgerfest des Bundespräsidenten eingeladen, selbst da konnten nur wenige etwas mit dem anfangen, womit sich Zimmermann in seiner Freizeit beschäftigt: Er schlichtet Streit in seinem Wohngebiet in Berlin-Moabit. Manche Schiedsmänner und -frauen arbeiteten seit 20 Jahren in ihrem Bezirk in Berlin und trotzdem weiß kaum einer, dass es sie gibt. Dass das Schiedsamt in Berlin mehr oder weniger unbekannt ist, liegt daran, dass Schiedsverhandlungen, im Gegensatz zu Brandenburg, nicht obligatorisch sind, bevor es zum Gerichtsverfahren kommt. Darüber würde Zimmermann, der auch Landesvorsitzender des Bundes Deutscher Schiedsmänner und -frauen ist, gerne mit dem neuen Berliner Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) sprechen, der quasi sein Chef ist.

Zimmermann hat kräftige Hände, seine Stimme passt nicht zu seiner solide hochgewachsenen Erscheinung, sie ist beruhigend, fast zart. Ein Mensch von der Sorte, dem man zutraut, dass er ein schreiendes Kind vor einem Süßigkeitenregal in weniger als einer Minute aus dem Laden verhandelt, ohne einen Beschwichtigungslolli zu versprechen. Einer, der als jüngstes von sechs Geschwistern aufgewachsen ist. Der Blick aufgeschlossen und interessiert. Zimmermann hat keine juristische Ausbildung, ist studierter Sozialpädagoge, Erziehungs- und Politikwissenschaftler und hat sich vor Jahren zum Mediator und Kommunikationstrainer ausbilden lassen. Nun coacht er Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung und Politiker, die in Teams arbeiten oder auf Parteitagen Reden halten wollen, für die sie mehr Applaus bekommen als ihr Vorredner. Mit dem Job hat er, wie er sagt, »sehr gut zu tun«.

In den zehn Jahren, in denen er als Schiedsmann im Berliner Stadtteil Moabit arbeitet, kamen vielleicht 60 Fälle zusammen, erzählt Zimmermann. Die Nachbarn wissen zwar, was er als Schiedsmann macht, aber darüber hinaus geht es nicht. Auch bei der Polizei weiß kaum ein Beamter was mit dem Schiedsamt anzufangen. Dabei würden die 69 Schiedsmänner und -frauen, die es in Berlin gibt, Amtsgerichte entlasten, erheblich billiger als ein Anwalt sind sie auch. Zehn Euro kostet es, ein Verfahren einzuleiten, zehn Euro kommen dazu, wenn es zu einer Vereinbarung kommt, was in den 123 Fällen, die 2015 in Berlin verhandelt wurden, immerhin bei fast der Hälfte gelang. Meistens teilen sich die Parteien das Geld. »Manchmal ist eine Seite aber so erleichtert, dann übernimmt der Antragsgegner auch schon mal die Kosten, weil er froh ist, dass die Sache aus der Welt ist«, sagt Zimmermann.

Eigentlich geht es immer um Streit zwischen Nachbarn. Eine Frau, die heimlich die Pakete der anderen öffnet und deren Postkarten liest, eine Frau, die sich mit einer anderen um den Keller streitet, hohe Beamte, die sich vom normalen Nachbarn nicht als »Arschloch« beschimpfen lassen wollen, mit solchen Dingen hat Zimmermann zu tun. Es geht so gut wie nie um das eigentliche Delikt, sondern immer stecken persönliche Verletzungen dahinter. Die Frau, die die Pakete öffnete zum Beispiel, gab zu, dass sie selbst gerne mal welche bekommen würde. Als Psychiater sieht sich Zimmermann nicht, er ist mehr so etwas wie eine Gesprächshebamme. Am Ende sprechen die Schiedspersonen, die in Berlin von den Bezirksverordnetenversammlungen und in Brandenburg von den Gemeindevertretungen gewählt werden, kein Recht. Was sie beschließen, ist allerdings für 30 Jahre auch vor Gericht vollstreckbar, dabei muss das, worauf sich die beiden Parteien einigen, noch nicht mal gesetzeskonform sein.

Das Schiedsamt, zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch unter dem Begriff Friedensrichter bekannt und nur den Gutsbesitzern vorbehalten, ist etwas Urpreußisches. Die Schiedsmänner sollten anfangs nur in Fällen von Beleidigung verhandeln dürfen, schnell aber wurde deutlich, wie sehr die Verfahren Gerichte von Bagatellfällen entlasteten und so wurde 1924 ihr Aufgabengebiet auf Hausfriedensbruch, üble Nachrede, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, Verletzung des Briefgeheimnisses, leichte Körperverletzung, Bedrohung und Sachbeschädigung erweitert und dabei ist es bis heute geblieben.

Zimmermann lädt die Streitparteien immer zu sich ins Büro ein. Ein heller, freundlicher Raum im Hochparterre einer Gründerzeitvilla. Eigentlich würde ihm das Bezirksamt Mitte Räume zur Verfügung stellen, aber die Atmosphäre dort hält er für nicht besonders versöhnlich. Die meiste Arbeit macht das geschickte Fragestellen aus. Am Anfang immer: Wollen sie den Konflikt denn überhaupt lösen? So gut wie niemand sagt nein. Wer laut wird, dem schreibt Zimmermann die Grundregeln eines zivilisierten Gesprächs mit Edding an ein Flipchart.

Sonst aber gilt: keine Belehrungen. Dass man einen anderen nicht als »Arschloch« bezeichnet, muss er den Leuten nicht mehr erklären. »Das Erziehungsfenster ist mit 17 zu, dann können sie mit Menschen nur noch über ihr Verhalten verhandeln«, sagt Zimmermann. Alles, was er erreichen will, ist, dass die Leute miteinander ins Gespräch kommen. Warum ist der andere ein »Arschloch«? Was müsste der aufgebrachte Nachbar tun, damit man ihm das »Arschloch« verzeiht? Im Schnitt dauern solche Schiedsverfahren zwei Stunden. »Manche stauen über 20 Jahre lang Ärger an, bevor sie zu mir kommen«, sagt Zimmermann. Eine Erkenntnis aus seiner zehnjährigen Schiedsmannerfahrung ist banal wie valide: Die Menschen reden zu wenig und immer viel zu spät.

Sabine und Andreas haben nach zehn Jahren aufgehört, mit ihren Nachbarn zu sprechen. »Wir sind über die Zeit quasi miteinander verstummt«, sagt Sabine. Angefangen hatte alles damit, dass die Nachbarn, die laut Verordnung für die Gestaltung der Grundstücksgrenze zuständig sind, vorschlugen, eine ein Meter hohe Ligusterhecke, die Allzweckwaffe jeder Grundstücksbegrenzung, würde ausreichen. Ihre Terrasse reichte genau an die Terrasse von Sabine und Andreas heran. »Man hätte sich beim Frühstück quasi auf dem Schoß gesessen«, sagt Sabine. Sie luden die Nachbarn zum Grillen ein, um zu verkündeten, dass sie sich ein bisschen mehr Privatsphäre wünschten und einen Zaun bauen wollen. Das akzeptierten die Nachbarn, so sagen es Andreas und Sabine. Zwar seien sie nicht begeistert gewesen, aber sie legten auch keinen Widerspruch ein. Wenige Wochen später dann ein Schreiben vom Bauamt. Die Nachbarn hatten sie wegen des Zaunes angezeigt. Nach einigem Hin und Her, Gutachten und Anwaltsschreiben, entschied das Bauamt: Der Zaun darf bleiben.

Vor einem halben Jahr saßen sich die beiden Familien dann beim Schiedsmann ihres Ortes wieder gegenüber. Dem Nachbarn gaben Andreas und Sabine beim Treffen nicht die Hand. Zuvor hatte der sie ein zweites Mal wegen ihrer Hecke beim Bauamt angezeigt, die fünfzehn Zentimeter über den Zaun wuchs, der laut Gesetz nur zwei Meter hoch sein darf, inklusive Hecke. »Dass er uns noch mal angezeigt hat, obwohl wir vorher immer das Gespräch gesucht hatten, hat uns sehr geärgert«, sagt Andreas. Mit dem Schiedsmann einigen sich die Familien darauf, dass die Hecke auf zwei Meter gekürzt wird.

»Streiten ist an und für sich nichts Schlechtes, manche Konflikte lassen sich nur so lösen«, sagt Zimmermann. Andreas trifft sich jetzt, so haben sie es mit dem Brandenburger Schiedsmann verabredet, immer im Mai mit dem Nachbarn am Gartenzaun und dann besprechen sie, was gekürzt werden soll und wo etwas abgeschnitten gehört. Seit über einem halben Jahr herrscht nun Burgfrieden.

*Namen geändert

Beispiel Berlin: Welche Schiedsperson für welches Einzugsgebiet zuständig ist, haben die Berliner Bezirksämter auf ihren Webseiten aufgelistet.

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