Junge Leute in der Pillenfalle

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 3 Min.

Eigentlich gehört diese Altersgruppe zu den gesündesten Menschen: Die 18- bis 27-Jährigen gehen am wenigsten zum Arzt. Und dennoch ist zwischen 2005 und 2015 die Anzahl junger Erwachsener mit einer Kopfschmerzdiagnose um 42 Prozent gestiegen. Hochgerechnet aus den Abrechnungsdaten der Krankenkasse Barmer GEK sind es inzwischen 1,3 Millionen junge Leute, die wegen Pochen, Klopfen und Stechen im Kopf mindestens einmal im Jahr zum Arzt mussten. Am häufigsten diagnostiziert wurden Kopfschmerzen bei Frauen im Alter von 19 Jahren - fast jede Fünfte ist betroffen; bei den gleichaltrigen Männern sind es knapp 14 Prozent. Viele weitere Menschen nicht nur in dieser Altersgruppe behandeln zudem ihre Kopfschmerzen mit frei verkäuflichen Mitteln wie etwa Ibuprofen selbst. Über alle Altersklassen wuchs die Zahl dieser Diagnosen im Zeitraum »nur« um 12,4 Prozent.

Über die Ursachen des hohen Anstieges bei jungen Erwachsenen kann Barmer-Vorstand Christoph Straub nur Vermutungen äußern: »Der Anstieg könnte ein Beleg dafür sein, dass der Druck in den letzten Jahren enorm zugenommen hat.« Oft werde darauf mit dem Verdacht reagiert, dass Feiern oder Computerspiele die Ursache seien. Straub verweist nicht nur für diese Altersgruppe auf die Möglichkeiten von Prävention, darunter Sport, Entspannungstechniken und eine gesunde Lebensführung.

Neben zunehmenden Kopfschmerzdiagnosen bereitet auch ein bedenklicher Tablettenkonsum bei noch Jüngeren Sorgen. Laut repräsentativer Umfrage der Barmer nehmen bereits 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen 9 und 19 Jahren Medikamente ein, wenn sie Kopfschmerzen haben. 42 Prozent von diesen sogar bei jeder Attacke. Außer von diesen Umfrageergebnissen ist Deutschlands zweitgrößte Krankenkasse auch von den Verordnungsraten rezeptpflichtiger Migränemittel alarmiert. Bei jungen Erwachsenen stiegen die Verschreibungen von 2005 bis 2015 um fast 60 Prozent, über alle Altersklassen um knapp 10 Prozent. Gegen Migräne werden vor allem Triptane verordnet, die als eine Art Wundermittel gelten. Als Nebenwirkung rufen sie bei zu häufigem Gebrauch paradoxerweise einen Dauerkopfschmerz hervor. »Die Betroffenen sitzen dann in einer Pillenfalle«, so Straub.

Angesichts dessen setzt die Barmer auf Präventionsprojekte, in denen die Schmerzen erfasst und der Umgang mit ihnen erlernt werden soll. In der »Aktion Mütze« für Schulkinder, die seit 2015 läuft, geht es um Vorbeugung durch Verhaltensänderungen im Alltag. Bei 70 bis 80 Prozent der Kinder gingen die Beschwerden seit Beginn des Projekts zurück. Für Studierende wird es ebenfalls ein Projekt geben, außerdem fördert die Kasse die Kopfschmerz-App M-sense. Sie ist als bisher einzige auf dem deutschen Markt als Medizinprodukt zertifiziert worden. Weiterentwickelt werden soll der digitale Assistent mit betroffenen Telekom-Mitarbeitern. Ab Mitte des Jahres können Unternehmen die App kostenlos für das betriebliche Gesundheitsmanagement nutzen.

Der Barmer-Arztreport erfasst jährlich Daten zur ambulanten Versorgung. Aktuell lagen die durchschnittlichen jährlichen Behandlungskosten für Männer bei 469 und für Frauen bei 615 Euro - ohne Zahnärzte, Arzneimittel und weitere Verschreibungen. Nur sieben Prozent der Deutschen blieben 2015 ohne Kontakt zu einem Arzt oder Psychotherapeuten.

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