nd-aktuell.de / 23.02.2017 / Kultur / Seite 16

»Ich wurde in der Sowjetunion gebaut«

Dimitrij Kapitelman: Liebeserklärung an den Vater, der doch mitunter schwer zu verstehen ist

Fokke Joel

An der Nachbarstür in Leipzig-Grünau hing ein Sticker: »Rudolf Heß - Volksheld. Freitag Party hier«. Doch die Eltern von Dimitrij Kapitelman, die mit ihrem Sohn in den 1990er Jahren aus der Ukraine nach Leipzig kamen, waren froh über die Vier-Zimmer-Wohnung. Und nahmen nicht so richtig wahr, wie viel Angst ihr Sohn vor dem Weg von der Schule nach Hause hatte. Betrunkene Neonazis hatten in Grünau einmal einen zehnjährigen Jungen mit einem Baseballschläger Schulter und Becken gebrochen. Doch als sich eines Nachts betrunkene Nazis auf Dimitrij stürzen wollen, hält sie einer, der Dirk heißt, zurück. Es stellt sich heraus, dass Dirk und Kapitelmans Vater sich kennen. Abends stehen beide oft zusammen vor dem Plattenbau und sehen ihren Hunden beim Spielen zu.

»Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters« hat Kapitelman sein Buch genannt. Ein Lächeln, aus dem er nicht schlau wird. So verwehrte die Sowjetunion seinem Vater als Mathematiker eine Karriere an der Uni, weil er Jude war. Trotzdem schaut er in Leipzig stundenlang russisches Staatsfernsehen und singt mit seiner Frau den Schlager »Ich bin ein Mensch der Sowjetunion. Ich wurde in der Sowjetunion gebaut.« Einerseits fühlt er sich als Jude, andererseits kann er mit Religion nichts anfangen und hält sie für verlogen.

Also schlägt Dimitrij Kapitelman seinem Vater vor, nach Israel zu reisen. Dort, so hofft er, wird er irgendwie greifbarer werden. Und siehe da, der Vater, der so oft »rastrojen« ist, was so viel wie »verstimmt bis traurig« heißt, findet die Idee »eigentlich gut«. Was Dimitrij dort über seinen Vater erfährt, ist freilich nicht immer das, was er erwartet hat.

So interessiert sich der Vater nicht für die gerade stattfindenden israelischen Wahlen. »In diesem Moment wird mein Vater wieder ein Stück sichtbarer, aber anders, als ich mir das vorgestellt hatte. Das Israel, das ihm wichtig war, ist das Israel, ... in dem er alten Freunden wiederbegegnen konnte. Das Zimmer-Zufluchts-Israel, das uns birgt, falls die Rechtsextremen in Deutschland zu stark werden.« Auch anderes ist nicht so, wie er dachte.

Zum Beispiel, dass sich sein Identitätsproblem nicht einfach damit lösen lässt, dass er Staatsbürger Israels wird. Er fährt - trotz der Warnungen des Vaters und der israelischen Freunde - in die besetzten Gebiete. Und trifft dort auf Palästinenser, die seine eigenen Vorurteile auf den Kopf stellen.

Dimitrij Kapitelman bekommt also keine einfache Antwort auf die Frage, wer sein Vater und wer er selbst ist. Es ist ein Buch, das die Probleme eines jeden beschreibt, der in der modernen Welt ohne festgefügte Identität aufgewachsen ist. Ein Buch, unterhaltsam und mit Humor geschrieben, das die Vorurteile und Widersprüche sowohl des Autors als auch des von ihm geliebten Vaters nicht verschweigt.

Am Ende entscheidet sich Dimitrij Kapitelman, einen deutschen Pass zu beantragen. »Die Reise mit meinem Vater«, schreibt er, »hat mir gezeigt, dass Zugehörigkeiten austauschbar sind - nicht aber die Menschen, mit denen man diese teilt. Meine Familie und meine Freunde leben in Deutschland. Die Unmenschen, die sie bedrohen, ebenfalls. Somit bin ich für Deutschland mitverantwortlich. Ob ich will oder nicht.«

Dimitrij Kapitelman: Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters. Roman. Hanser Berlin. 288 S., geb., 20 €.