nd-aktuell.de / 28.02.2017 / Politik / Seite 14

Stralsunds Schaufassade braucht eine Kur

Am Rathaus der Hansestadt bröckelt es gewaltig - in dieser Woche beginnt eine umfangreiche Sanierung

Martina Rathke, Stralsund

Klotzen statt Kleckern: Die Stralsunder Ratsherren müssen im Mittelalter vor Selbstbewusstsein gestrotzt haben. Nicht nur, dass sie Anfang des 14. Jahrhunderts ihr Rathaus quer vor die für Prozessionen bedeutsame Westseite der Nikolaikirche setzten - und damit deutlich machten, wer der eigentliche Herr in der Hansestadt ist. Als Zeichen ihres Machtanspruchs versahen sie ihr Verwaltungsgebäude vor knapp 700 Jahren auch noch mit einer protzigen Schaufassade, die in Norddeutschland ihresgleichen suchte: Heute recken sich auf einer Breite von 30 Metern sechs backsteinerne Giebel 29 Meter stolz in die Höhe und verdecken die eher schlichte Rathausfront dahinter.

Doch an der bekannten und bei Touristen als Fotomotiv beliebten Fassade, die im 19. Jahrhundert auf der Nordseite neu aufgemauert wurde, nagt der Zahn der Zeit. Im Jahr 2013/14 mussten Fachleute Steinteile aus der Front herausnehmen und notsichern, weil herunterfallende Mauerstücke Passanten gefährdeten. Auch aus der Rückseite, die zum großen Teil noch aus mittelalterlichem Backstein gemauert ist, stürzen regelmäßig Steine herunter. Die Fassade bröckelt.

»Temperaturunterschiede von bis zu 20 Grad zwischen Nord- und Südseite der Schaufassade haben größere Schäden verursacht«, sagt Bauleiter Klaus Grützmann. Hinzu kämen Fehler bei früheren Sanierungen in DDR-Zeiten. Ein zu harter Fugenmörtel habe bei den weichen Backsteinen sogenannte »Randsprengungen« verursacht.

Nun beginnt die wohl umfangreichste Sanierung der letzten Jahrzehnte. Die Stadt gönnt ihrer schönsten Fassade eine Schönheitskur. Mehrere Tausend Backsteine werden in den kommenden Monaten ausgetauscht. In einer Brandenburger Spezial-Ziegelmanufaktur wurden mehr als 4000 Formsteine nach historischem Vorbild gefertigt. Dazu kommen rund 3000 handelsübliche Steine. »Das ist nur die Ausgangsmenge zu Sanierungsbeginn«, sagt Bauingenieur Grützmann. Es könnten durchaus noch mehr werden.

In der Werkstatt der auf die Denkmalpflege spezialisierten Neuen Ziegelmanufaktur im brandenburgischen Glindow hat das Team um Harald Dieckmann die 4052 Formsteine gebrannt. Nicht nur der Brennvorgang in den 14 Kammern des Ofens ist eine Wissenschaft für sich: Von den historischen Steinen, die bei der Notsicherung entnommen wurden, hatten Stralsunder Fachleute zuvor die Maße genommen und Zeichnungen gefertigt. In einem Materialprüflabor in Berlin seien dann Ton- und Mörtelqualitäten bestimmt worden.

In Glindow fertigten die Mitarbeiter in einem nächsten Schritt nach diesen Vorgaben Schablonen und Holzmodelle für die insgesamt 50 verschiedenen Typen der Ersatz-Ziegel. Gebrannt wurden sie in einem kohlebefeuerten Ringofen aus dem Jahr 1868. »Die Steine aus der Stralsunder Rathausfassade stammen aus verschiedenen Bauphasen und haben unterschiedliche Anforderungen an die Tonzusammensetzungen und -eigenschaften«, erklärt Dieckmann. Jeder Ton habe ein individuelles Schwindmaß. Entsprechend unterschiedlich mussten die Schablonen ausgelegt werden, berichtet Experte von den besonderen Herausforderungen dieses Projekts.

Die etwa 675 000 Euro teure Fassadensanierung sollte am Montag mit dem Gerüstaufbau beginnen. Schon das sei eine diffizile Angelegenheit, sagt Grützmann. Um die Statik der Schaufassade nicht zu gefährden, wird das Gerüst frei stehend um das historische Gemäuer errichtet.

Bei der Sanierung des Mauerwerks wollen die Fachleute auch die alten Eisen- und Stahlanker überprüfen, die von der Dachkonstruktion des Rathauses als Absteifung zur Fassade führen. Bekannt sei, dass ein Teil der Anker angerostet ist und ausgetauscht werden muss. Wie viele das sind, wird sich erst zeigen, wenn die Anker freigelegt sind. »Es warten in den nächsten Monaten noch viele Überraschungen auf uns«, sagt Grützmann. Im November sollen die Arbeiten beendet sein. dpa/nd