Müllerhäppchen für Insider

»Herzstück -Texte am Ende« nach Stücken und Motiven von Heiner Müller am Berliner Ensemble

  • Volker Trauth
  • Lesedauer: 3 Min.

Der zweite Teil des Titels zeigt die Richtung an - es sind Texte von Bilanz und Rückblick. In einem Hotelzimmer in der »unwirklichen Hauptstadt« sitzt der Autor Heiner Müller und erinnert sich. In der Aufführung wird er aus dem Munde von acht Schauspielern sprechen. Sie werden Bruchstücke aus Stücken, Gedichten, Anmerkungen und politischen Wortmeldungen solo oder im Chor singen, skandieren, krächzen, rufen oder scheinbar emotionslos verkünden.

Die Textauswahl ist thematisch weit gespannt. Sie beleuchtet Müllers Autorenpositionen zu verschiedenen Zeiten. Es beginnt mit der Phase des »Schreibglücks« Ende der 1940er Jahre, als er sich im »Besitz der Wahrheit« wähnte und an die Zukunftsfähigkeit der sozialistischen Ordnung glaubte. Am Ende dann der Sturz in die Hoffnungslosigkeit. »Mein letztes Programm ist das Schweigen«, sagt er dann. Die persönliche Ratlosigkeit findet ihren Ausdruck in einem Alptraum, von dem ein einsamer Mann heimgesucht wird. Dieser befindet sich im zwanghaften Lauf auf schmalem Podest vor einer uneinnehmbaren Wand und sieht auf einen Sterbenden im 12. oder 13. Stock eines Hochhauses - ohne Chance, ihm helfen zu können. Sein »Himmel ist der Abgrund« geworden vor dem es »kein Entkommen« gibt. Müller denkt auch an die Gleichgesinnten, an Peter Zadek, der »Berlin seine Zähne zeigt«, an Einar Schleef, der mit »gebrochener Stimme aus Goethes Sarkophag« spricht und an den »missverstandenen Brecht«, an den nur noch ein »kahler Pflaumenbaum« erinnert.

Regisseur Philip Tiedemann nutzt die Textsplitter als Spielanlass und verzichtet dabei auf die Suche nach kausalen Zusammenhängen - so als wollte er anknüpfen an Müllers im Programmheft abgedruckte Lobpreisung des »Übergangslosen«. Am Anfang einige wankende Gestalten hinter dem Schleiervorhang. Die treten nach vorn und formieren sich zum Trauermarsch in Zeitlupe. Plötzlich strömen die Gestalten auseinander. Sie beginnen, einzelne Textstellen auf die Vielfältigkeit ihrer Interpretationsmöglichkeit zu untersuchen. Der Satz vom »verlorenen Engel« wird gedeutet als tragischer Verlust und im jähen Bruch als Freude über die Befreiung von einer unsichtbaren Bedrohung. Der bei Müller folgende Befund »und es kommt nichts nach« wird gegeben als ironische Schadenfreude wie auch als Trauerbotschaft.

Die Freude über die Befreiung steigert sich zu einem Siegesfest und endet mit einem Abendmahl am riesigen Tisch. Aus der Abendmahlgesellschaft löst sich ein junger Mann, der den Alptraum vom Kind erzählt, das sich im Zauberwald gegen Gespenster wappnet und in dessen Gesicht der Träumende sich selbst wiederfindet. Ohne Übergang sind vier andere Tischgäste auf einmal die vier hungernden Soldaten aus dem Stück »Die Schlacht«, die ihren Kameraden töten und verspeisen, um ihn dann als »Garanten des Endsiegs« zu feiern.

Für die nächste Szene aus Müllers Stücken, dem Streit zwischen dem Müller von Sanssouci und Friedrich II. aus »Germania Tod in Berlin« wird die Bühne leer geräumt; der König schwebt auf einer Kinderschaukel über dem Kopf des Müllers und krächzt dessen Einspruch gegen die Schließung der Mühle nieder. Das Minidrama »Herzstück«, jener Text vom mühselig herausoperierten Herzen, das sich als Ziegelstein erweist, wird nacheinander als Pantomime, Opernduett, Mundartstreit und Solonummer gegeben.

Gerade diese Szenen und die aus »Die Schlacht« und »Germania Tod in Berlin« sind Höhepunkte des Abends. Die »Müllerhäppchen« für Insider können eben im Spielplan die lange vermisste vollständige Inszenierung von den weltliterarisch bedeutenden Stücken des Autors nicht ersetzen.

Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz 1, Mitte; nächste Vorstellungen: 9.,23. März.

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