nd-aktuell.de / 10.03.2017 / Kultur / Seite 13

Die Leere ist nicht das Nichts

»In die dritte Dimension« - Das Frankfurter Städel Museum zeigt künstlerische Raumkonzepte

Anita Wünschmann

Der Mensch als dreidimensionales Wesen bewegt sich im Raum. Er beansprucht Raum und soweit seine Sinnesorgane es erlauben, nimmt er Raum wahr. Oder er besetzt Raum mit Kunst, Ideen und anderen Konzepten. Die Geschichte des Nachdenkens über Raum als Grundpfeiler philosophischer Betrachtungen, als mathematische Analyse, als kulturtheoretisches Denken ist immens und nimmt seit dem Jahrtausendwechsel an Fahrt auf (»Topologische Wende«). Diskurse ergreifen immer neue Wissenschaftsfelder, geopolitische und astrophysikalische Raumkonzepte stehen nebeneinander und durchdringen sich.

Das Frankfurter Städel Museum eröffnet sein Kunstjahr mit einer Grafikschau zum Thema. In 14 Kabinetten geht es um visualisierte Raumkonzepte, die seit der Moderne gedacht werden oder von dieser inspiriert sind. Es geht um Codes für die Wahrnehmung von Dreidimensionalität auf einem Blatt Papier. Das ist schön. Und alles in allem wird mit den Arbeiten von 13 Künstlern ein inspirierender Denkraum eingerichtet.

Die Zeichnung, die sich vergleichsweise spät als eigene Gattung im Kanon der Künste emanzipiert hat und ihre Vorstufen als ein Modelldenken des Körperlich-Räumlichen in der Bildhauerzeichnung erfuhr, kann mit äußerst sparsamen Mitteln Räume visualisieren. Ein Strich genügt, um eine zusätzliche Dimension vor den Augen des Betrachters aufzuspannen. Ein Schwung auf Papier liest sich wie ein Theorem und ist ebenso sinnlich.

Linien, die in allen Richtungen übers Blatt hinaus zielen, eröffnen nicht nur Räume, sondern verdichten diese durch Überlagerung wie bei Norbert Kricke (1922 - 1984) dessen offene Drahtskulptur »Raumplastik blau weiß rot« im Kontext mit drei Zeichnungen zu sehen ist. Die Hand fährt über das Blatt. Sie lässt die Linie aus schwarzer Chinatusche im weißen Nirgendwo ansetzen, hin und her fahren oder schnurstracks verschwinden. Das Wort »Setzungen«, die Raum erst erfahrbar machen, mag dafür gelten. Ihm genügt dafür ein Fastnichts.

Die grafische Sammlung des Städel Museums hat ihre Schatzkisten geöffnet, um sich einem strukturellen Thema zuzuwenden, wie Museumschef Philipp Demandt sagt. Kuratorin der Schau ist Jenny Graser. Volumen, Grenzen, Form und Leere werden von Künstlern wie El Lissitzky bis Sol LeWitt und James Turrell, vom Schlitzkünstler Fontana (hinter dem geöffneten Blatt ist nicht die Leere, sondern neuer Raum) bis zum baskischen Bildhauer Eduardo Chillida ausgelotet. Der Rundgang beginnt mit den Utopien des 20. Jahrhunderts und endet mit dem Traktat »Die Kunst und der Raum«, das Martin Heidegger 1969 schrieb.

Am Anfang des Raumlabors sieht man Klarheit und ein Hochhinaus. Geometrische Flächen und Körper kippen, bauen sich auf und schweben, wenn sie nicht auf einer Nadelspitze quasi mondnah balancieren. El Lissitzkys präzise Konstruktionen - Lithografien - aus den Zwanzigern, seine Astroarchitekturen scheinen sich der Berechnung zu entziehen, zumindest beansprucht der Künstler ein von der mathematisch-physikalischen Logik befreites Raumdenken.

Der Bauhauskünstler László Moholy-Nagy komponiert im selben Jahr abstrakte Dimensionen, indem er Rechtecke, Kreisformen und Balken übereinander legt. Er war von der Glasarchitektur Adolf Behnes inspiriert und hat in verschiedenen Medien die Hervorbringung von Transparenz analysiert. Die Druckgrafiken stammen aus Mappenwerken der Hannoveraner Kestner-Gesellschaft und offenbaren die Faszination der Künstler, Utopien zu modellieren. Sakral wirken zwei Blätter von Hermann Glöckner (1889 - 1987), der verschiedene Raumkonzepte übereinanderlegt: Über einem geschlossenen Quadrat, das er auf die Spitze stellt, verlaufen Linien wie Vektoren, die sich zu offenen Dreieckskonstrukten überschneiden. Oder die Faltskulptur »Drei Phasen« aus dem Jahr 1980! Immer wieder sind seine scharf geknickten und bemalten Papiere in ihrer Reduziertheit und Schönheit frappierend. Ein Meister der Genauigkeit des Optisch-Konstruktiven.

Fred Sandback erkundet mit Umkehrlithografien, fadendünne Linien erscheinen auf grünem Grund, die Leere und folgt der Heidegger-Sentenz: »Die Leere ist nicht nichts. Sie ist auch kein Mangel.« Seine Körper entbehren jeder Materialität und Masse. Eine Lektion zur Geometrie von festen Körpern, die im Licht schweben oder besser von Lichtkörpern, deren Festigkeit keinesfalls gewiss ist, erhält man von Sol LeWitt, dem US-amerikanischen Minimalisten. Seine gestauchten Quader und Würfel aus monochromen Farbflächen wirken dabei wie aus einem Kinderbastellbogen. Ein Kräfteherumschieben (»Rot gelb blau«) bei Imi Knoebel. Er zeigt mit einem weiteren titellosen Quaderzyklus von 1985, wie ein dreiteiliger Block sich von Blatt zu Blatt aufspaltet, wie sich durch Verschrägung der Kantenlängen Perspektiven verändern. Es sind rote Farbfelder, deren Bewegung fast erschütternd sinnfällig wird.

Eduardo Chillida, der sich selbst als »Architekt der Leere« bezeichnet hatte, befasst sich mit dem Zwischenraum. Die Leere erscheint bei dem baskischen Künstler selten leicht, eher komprimiert, dabei in Bewegung, Öffnungen inbegriffen. Seine Collagen sind aus einer Begegnung mit Martin Heidegger entstanden, der ihm wiederum sein Raumessay 1969 gewidmet hatte. Beide beanspruchen für sich, zum Thema Raum und Kunst mehr Fragen gestellt zu haben als Antworten geben zu können.

»In die dritte Dimension«, bis 14. Mai im Städel Museum, Schaumainkai 63, Frankfurt am Main