Fegefeuerstimmung auf den Videowänden

Alte Münze: Die Ausstellung »Hieronymus Bosch - Visions Alive« geht in die Verlängerung

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Weg führt durch Höfe, vorbei an Bauplätzen und Drahtzäunen mit drangesetzten Schutzplanen. Adresse: Museum »Alte Münze«, Berlin Mitte, Am Molkenmarkt 2. Um 10 Uhr ist Einlass. Noch kühl drinnen. Heizgeräte laufen an. Die gesamte Maschinerie setzt sich per Handyklick sukzessive in Gang. Bosch ist der Gegenstand, Anlass: sein weltweit gefeierter 500. Geburtstag im vorigen Jahr, Hieronymus Bosch, der große holländische Renaissancemaler, über dessen Leben zwar wenig bekannt ist, aber dessen bedeutende Malereien sich erhalten haben. Zwei Großwerke, beide im »Prado« zu Madrid original zu sehen, stehen im Fokus der Ausstellung, betitelt mit »Hieronymus Bosch - Visions Alive«: das Triptychon »Der Garten der Lüste« und »Die sieben Todsünden und Die vier letzten Dinge«, in je verschiedenen, auch vom Publikum durch Mausklick veränderbaren Gestaltungen zu erleben auf weit gespannten Videowänden ringsum.

In dem Haus arbeitete mal die »Alte Münze«, erbaut mitten in der Hitlerzeit, ehemals Prägeinstitut für Groschen und Mark. 1990 wurden die D-Mark-Münzen dort geprägt, 1999 die Euro-Münzen. Heute ist sie ein Ort für allerlei »Events« der Film-, Performance-, Elektronik- oder Showbranche. »Hieronymus Bosch - Visions Alive« läuft dort schon seit Sommer 2016 als »Multimedia-Ausstellung« mit gesonderten Bosch-Abbildungen und Erläuterungen in Vitrinen, Texten an den Wänden, historischen Chroniken etc. Wegen des großen Zuspruchs entschied sich das Museum, sie auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Woher rührt dieses Interesse? Ist es reine Technikfaszination? Neugier auf alte, große Kunst? Interessiert, was die Bilder ausdrücken? Oder nur ihre Verpackung?

Dekonstruktion und Verlebendigung wie im Zeichentrickfilm stehen bei dem Projekt obenan. Geleistet über maschinelle, digitale Verfahren, die enorme immanente Vielfalt der Malereien in cineastische 3D-Bilderwelten in HD-Qualität zu verwandeln. Einfacher gesagt: Die Boschschen Darstellungen kommen, eingetaucht in klanglich seichte Gewässer, sozusagen ins Laufen, und der Zuschauer ist umstellt davon. Was passiert?

Aus Bildern lösen sich Segmente heraus, verselbstständigen sich, schweben frei in nie gesehene Landschaften nach dem Eisenbahneffekt. Horizonte schrumpfen zusammen, Details wachsen ins Riesige, vergleichbar der Textauffaltung durch Berührung beim Handy. Bildteile parallelisieren, vermischen sich, treten wieder auseinander, dazu diffuse Marcato- oder sonstige, meist windelweiche Klänge. Ganze Bildflächen verschwinden allmählich und machen einem Pointillismus à la Georges Seurat Platz, nur ohne Gegenstand. Einzelne Bildteile gewinnen wiederum ein Eigenleben, wie etwa der pendelnde Schlüssel, in dessen Ring eine Menschengestalt baumelt und bei dem es bei jedem Pendelschlag quietscht. Fragmente drehen sich um ihre Achse. Klänge, eher Schwaden von Klängen, und Geräuschillustrationen sind räumlich breit entfaltet und allseits präsent. Blinkt das Messer aus dem Fischmaul, klirrt der Klang der Klinge aus dem Lautsprecher.

Die paradiesische Karawane der Tiere und Nackten begleitet Elektronik im Dreivierteltakt. Die güldene, Blumen, Menschen und Getier tragende Kugel dreht sich und wandert im »Garten der Lüste«, als wäre sie Abbild der Sonne. Dahinter liegen Klänge, so überflüssig wie die Buttons, über welche die Finger digital das Zufällige der Bildflüsse noch potenzieren können. Kein Ende des digitalen Schwebens. Immerfort passieren neue Panoramen, Körper und Objekte Revue: scharenweise Badende, Nackte, eine Fülle fantastischer Zwei- und Vierbeiner, berittene und unberittene, ziehende Fisch- und Vogelschwärme, ungeahnte Kreaturen auf Wegen und Flüssen, allesamt technisch raffiniert ins Bild gesetzt. Nichts ist echt und geht tiefer. Dann Feuer und Hölle, Vernichtung, eingepackt in Schall und Rauch.

Widerschein unikaler Bilder des Schreckens, wie sie nur Bosch gemalt hat, Apokalypse, erhofft von den Ausgestoßenen ganz unten, solchen, die sich das Bestehende völlig anders wünschten. Fegefeuerstimmung indes auf den Videowänden der »Alten Münze«, wie in Horrorfilmen, worin gerade eben die Großstadt in die Luft geht. Diese düstere Seite blendet vergleichsweise rasch weg. Dass Bosch hier ganz aktuell ist, wird nicht erlebbar und steht auch nirgendwo auf den Texttafeln. Insgesamt gehen das Paradies, die Lüste, die Todsünden, die letzten Dinge in dieser »Visions-Alive«-Show wie das Fleisch der Ochsen durch die Röhren der Wurschtmaschine hindurch, geronnen zum Billigprodukt. Es ist heute üblich, Kunst so aufzubereiten, dass sie nur auf bloße Reize hin wahrgenommen wird.

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