nd-aktuell.de / 15.03.2017 / Kommentare / Seite 4

Lasst die Menschen durch!

Mit Grenzzäunen begannen erst die Probleme, die heute der Migration angelastet werden, meint Fabian Köhler

Fabian Köhler

Man muss nicht auf die neuesten Einwanderungeskapaden Donald Trumps blicken, um zu festzustellen, dass unser Umgang mit Menschen, die Grenzen überqueren wollen, problematisch ist. 300 von ihnen schafften es zum Beispiel vergangene Woche über jenen zehn Meter hohen Stacheldraht, der die spanische Exklave Ceuta von Marokko, Europa von Afrika trennt. Wobei »schaffen« relativ ist. Viele von denen, die Europa mit gebrochenen Knochen und tiefen Schnittwunden erreichten, wurden nach kurzem Aufenthalt in einer spanischen Polizeiwache wieder zurück in die nicht nur sprichwörtliche Wüste geschickt.

Stellt sich die Frage: Was soll der Mist? Müssen wir Menschen, die sich - aus welchen Gründen auch immer - dazu entscheiden, lieber dies- als jenseits der Grenze arbeiten, leben oder schlicht überleben zu wollen, mit Stacheldraht und Todesstreifen begrüßen? Mit Patrouillenbooten und Internierungslager? Zumindest mit Schlagstöcken und Schlagbäumen?

Souveränität bedeutet, dass ein Staat seine Grenzen kontrolliert. Dieses Mantra schwebt über allen Migrations- und Integrationsdebatten, eint nicht nur Flüchtlingsgegner. Auch viele Menschen, die Einwanderung positiv gegenüber stehen, sind der Meinung, dies müsse »kontrolliert« geschehen. »Wir brauchen einfach ein gewisses Maß an Ordnung an unseren Grenzen«, sagt zum Beispiel Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). »Staat heißt auch Herrschaft über die Grenzen«, erklärt der Bonner Verfassungsrechtler Udo Di Fabio. Grenzen nicht zu kontrollieren sei »staatsgefährdend«, so der Vizechef der Polizei-Gewerkschaft Jörg Radek. Selbst Sahra Wagenknecht beklagt den Kontrollverlust an deutschen Grenzen. Und Frauke Petry meint, »ein Staat, der seine Grenzen nicht kontrolliert, hört auf, ein Staat zu sein«.

Ist das so? Muss ein Staat seine Grenzen kontrollieren? Ist staatlich unreglementierte Migration wirklich eine Utopie gutmenschlicher Realitätsverweigerer, die staatliche Souveränität dem Massenansturm aus dem Süden preisgeben wollen? Nein. Denn die mit NATO-Draht und Frontex-Soldaten abgeriegelte imaginäre Linie auf einer Karte war jahrhundertelang oft nur genau das und ist es in vielen Fällen auch heute noch. Und dennoch hielten sich die staatlichen Gebilde links und rechts davon für nicht weniger souverän als heutige eingezäunte Nationalstaaten.

Das eingangs erwähnte Spanien gehörte bis vor Kurzem noch selbst dazu: Migration zwischen Afrika und Europa und vice versa war an der Straße von Gibraltar über Jahrhunderte der unreglementierte Normalzustand. Seit dem 15. Jahrhundert sind die Exklaven Ceuta und Melilla im spanischen Besitz. Doch selbst nach der marokkanischen Unabhängigkeit von 1956 pendelten afrikanische Erntehelfer problemlos hin und her. Erst die EU war es, die Spanien ab 1991 zunehmend zur Abriegelung der Grenze drängte. Damit stellte sich nicht nur unser heutiges Verhältnis von Grenzkontrolle und staatlicher Souveränität auf den Kopf. Mit der Abriegelung der Grenze begannen erst jene Probleme, die wir heute der Migration anlasten: Aus Erntehelfern wurden illegale Migranten, die - der Möglichkeit der Rückreise beraubt - immer größere Risiken auf sich nahmen und ihre Familie oftmals gleich mitbrachten. Es folgten die Bilder von Leichen am Strand und Wellblechsiedlungen auf dem spanischen Festland. Das Problem, das der Zaun zu lösen vorgab, wurde durch ihn erst geschaffen.

Die spanisch-marrokanische Grenze ist nicht der einzige Ort, wo Verwirrung über Ursache und Wirkung von Migrationsproblemen herrscht. Das Vereinigte Königreich, das heutzutage lieber aus der EU austritt, als die Imagination kontrollierter Grenzen aufzugeben, hatte seine Grenzen bis in die 1960er Jahre für hunderte Millionen Menschen aus den 50 Commonwealth-Nationen geöffnet. Von einem Millionenheer unregistrierter Migranten wurde die britische Insel dennoch nicht überschwemmt. Und auch an der mexikanisch-amerikanischen Grenze begannen viele der Probleme von Drogenschmuggel bis Wüstentod erst, als US-Politiker im 20. Jahrhundert begannen, sie zu schließen.

Und noch etwas zeigt das Beispiel Mexiko: Grenzkontrollen können Migration teurer und blutiger machen, begrenzen können sie sie nicht. Obwohl Mauern, Stacheldraht und die Vorstellung von Grenzkontrollen als essenzieller Teil staatlicher Souveränität heute weltweit massiven Absatz finden, geht die Zahl der Migranten weltweit nicht zurück. Verhalten wir uns doch einfach souverän und lassen sie passieren.