nd-aktuell.de / 20.03.2017 / Kultur / Seite 10

Manifest für unabhängiges Publizieren

Der Zustand der Verlagswelt muss an ihrer Vielfalt gemessen werden - an ihrer Bibliodiversität

Susan Hawthorne

Das globale Verlegen ist der neueste Trend in einer Reihe von Fusionen und Übernahmen in der Buchbranche, die während des letzten Jahrhunderts stattgefunden haben. Als die Kirche im 15. Jahrhundert den Buchdruck für eigene Zwecke schnell professionell zu nutzen wusste, wurden viele Bücher und Pamphlete von AutorInnen und DenkerInnen zu Hause geschaffen und kursierten im kleinen Kreis. Für Frauen und Angehörige von kolonialisierten und versklavten Völkern war es immer schon schwierig, ihre Ideen drucken zu lassen, trotzdem haben Minderheitengruppen Wege gefunden, ihr Wort in die Öffentlichkeit zu tragen.

Während des 20. Jahrhunderts hat sich das Buch über die ganze Welt verbreitet, vor allem über die Taschenbuchausgaben mit ihrem billigen Papier und flexiblen Einband. Allen Lane, der Gründer von Penguin, machte sie in den 1930er Jahren zugänglich. Er verlangte nur ein paar Pence dafür. Ich erinnere mich an die Reihen von orangefarbenen Penguins, blauen Pelicans und grünen Krimis in unserem Buchladen im ländlichen Australien. Die schwarzen Klassiker hatten es noch nicht bis dorthin geschafft, den Puffins für Kinder war ich damals bereits entwachsen, aber die anderen populären Farben füllten die Regale.

Publizieren im digitalen Zeitalter

Im 21. Jahrhundert wird uns versprochen, dass das »Digitale« uns retten wird, dass E-Books zu Schleuderpreisen der richtige Weg sind, dass wir mit nur einem Mausklick unsere eigenen Texte veröffentlichen können. Aber stimmt das wirklich? Befinden wir uns im ersten Zeitalter des Massen-Self-Publishing? Brauchen wir noch LektorInnen? Und welche Rolle können unabhängige Verlage in einer durch den Markt gesteuerten globalen Wirtschaft spielen?

Unter dem Deckmantel der stark kapitalisierten Verlagskonzerne, deren Namen jede/r LeserIn kennt, verspricht uns die Marktökonomie Massen von günstigen Büchern. Der Prozess der Verlagskonzentrationen ist ähnlich verlaufen wie in anderen Industriezweigen. Es wird versucht, immer mehr Kontrolle über Menschen zu erlangen, deren Bedürfnisse sie mit eigenen Produkten zu erfüllen versprechen. Während die »Pharma-Großindustrie« in landwirtschaftliche Anbaumethoden eingreift, lenkt uns die »Buch-Großindustrie« mit stets neuem Sortiment, Great Deals und Büchern, die fast nichts mehr kosten, ab. Aber ähnlich wie von der Milchbäuerin, die ihre Milch unter dem Kostenpreis an den Supermarkt verkaufen muss, so wird auch von Verlagen erwartet, dass sie jetzt Bücher, an denen sie jahrelang gearbeitet haben, die sie gründlich lektoriert und für deren Gestaltung, Haptik und Qualität sie viel Sorge getragen haben, für ein paar Dollar verkaufen.

Unabhängige Verlage produzieren neue Titel nicht am Fließband. Wahrscheinlich sind die meisten Leute dabei unterbezahlt und unterversorgt, schaffen es aber dennoch, neue und gute Bücher zu produzieren.

Globale Verlagskonzerne fördern nicht das Skurrile, das Originelle, das Risikovolle, das Innovative - gerade dies werden aber die wichtigen Bücher für die nächste Generation, da sie etwas Neues und Relevantes zu sagen haben. Bei Verlagskonzernen geht es nur um Zahlen und um Nachahmung. Darum folgen sie einer Formel, die auf dem letzten Megaerfolg aufbaut, seien es Geschichten, die den Büchern von J. K. Rowling ähneln, eine neue erotische Version von »Seventy Shades« oder eine Twilight-Zone-Kopie mit Zombie-Charakteren, die sich wie Holzsoldaten in roten Mänteln bewegen. Großverlage und Großbuchhandlungen werden alles aussortieren, was ihnen als »anders« erscheint, es glatt bügeln und daraus ein One-size-fits-all-Produkt machen. Eine Buch-Linie wie eine Dessous-Linie. Wie André Schiffrin, der Gründer des amerikanischen unabhängigen Verlages New Press, über den freien Markt der Ideen sagt, er kümmere sich nicht um den Marktwert einer Idee, da »... alle möglichen Ideen die Chance bekommen sollten, öffentlich gemacht, ausgedrückt und vollständig erörtert zu werden«. In Verlagskonzernen wird dagegen erwartet, dass jedes Buch sich selbst finanziert sowie auch alle externen Kosten des Verlegens wie Büros und Gehälter der Angestellten und GeschäftsführerInnen. Dies führt dazu, dass Bücher, die sich langsamer verkaufen, aber ein langes Leben haben, Bücher, die soziale Normen verändern können, weniger Chancen haben, veröffentlicht zu werden.

Unabhängige Verlage suchen einen anderen Weg, einen Weg mit gesellschaftlichem Engagement und mit Herangehensweisen, die ihre Verortung oder die Nische, die sie versorgen, reflektieren. Unabhängige und kleine Verlage sind wie seltene Pflanzen, die zwischen den größeren auftauchen und etwas anderes hinzutun: Sie nähren den Boden und bringen Farbe oder Gerüche in die Welt.

Unabhängige Verlage

Die International Alliance of Independent Publishers definiert einen unabhängigen Verlag als einen Verlag, der keine Fördermittel oder sonstige Unterstützung von Institutionen wie politischen Parteien, religiösen Organisationen oder Universitäten erhält, also keine finanziellen Mittel oder Sachleistungen, welche ihre verlegerischen Entscheidungen beeinflussen könnten. Diese Definition verhindert nicht, dass Verlage Zuschüsse bekommen, das Verlagsprogramm darf jedoch nicht von der fördernden Instanz bestimmt werden. Ein anderer Punkt der Definition der Alliance beinhaltet das Verbot der aktiven Führung eines Verlages von denjenigen, die die Finanzen zur Verfügung stellen (d. h. ein unabhängiger Verlag kann kein kurzfristiges Profitprojekt einer Bank oder eines Unternehmens sein). Des Weiteren sollten die Neuerscheinungen und die Backlist ein aufeinander abgestimmtes Programm sein. Unabhängige Verlage müssen sich die Frage stellen, wie sie Bibliodiversität im öffentlichen Diskurs, bei der Zusammenarbeit mit unabhängigen Buchhandlungen, öffentlichen Bibliotheken, regionalen Organisationen sowie in internationalen Partnerschaften mit anderen unabhängigen Verlagen, durch Koeditionen und Übersetzungen fördern können. Das Verlegen von Werken in Originalsprache ist ebenso ein wichtiger Faktor; im Gegensatz dazu steht der Ankauf von Lizenzen einer Massenmarktbücherware.

Bei den unabhängigen Verlagen handelt es sich keineswegs um Hybride, sondern um den Ursprung der kulturellen Vielfalt. Mit ihrer Bibliodiversität treten sie den gewaltigen Konzernverlagen und dem Großbuchhandel entgegen. Dieses Manifest ist eine Gratwanderung zwischen langfristigem Optimismus und kurzfristigem Pessimismus. Es gibt viele Herausforderungen für unabhängige Verlage, die auf dem globalen Marktplatz agieren. Das digitale Publizieren eröffnete neue Möglichkeiten, während es gleichzeitig eine Bedrohung in Form einer Rekolonisierung von Ideen und geistigem Eigentum in sich birgt. AutorInnen, VerlegerInnen, BuchhändlerInnen, BibliothekarInnen, LeserInnen und RezensentInnen agieren in einem veränderten Umfeld. Das Verlegen ist eine soziale, kulturelle und transformierende Tätigkeit, aber es ist auch eine, die von denjenigen, die nicht auf der Seite von sozialer Gerechtigkeit und fairer Sprache stehen, besetzt werden kann.

Ein/e unabhängige/r VerlegerIn zu sein, braucht Kraft, Ideen und Mut, sich gegen Konzerne durchzusetzen, und das mit Originalität, Leidenschaft und großem Arbeitseinsatz. (...)

Biodiversität und Bibliodiversität

So wie die Biodiversität ein Indiz für die Gesundheit des Ökosystems ist, kann der Zustand eines ökosozialen Systems an seiner Vielfältigkeit gemessen werden und der Zustand der Verlagswelt an ihrer Bibliodiversität.

Biodiversität ist ein komplexes, sich selbst erhaltendes System einer ökologischen Nische an einem sehr spezifischen Ort. Es umfasst genetische Unterschiede, sowohl innerhalb der Arten als auch innerhalb von Ökosystemen. Es umfasst Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen. Es »umfasst alle Arten, die gegenwärtig auf der Erde existieren, die Variationen, die innerhalb einer Art existieren, und alle Wechselwirkungen, die zwischen all diesen Organismen existieren und deren biotische und abiotische Umwelt als auch die Integrität dieser Interaktionen« (Gowdy/McDaniel, 1995). Ich möchte den Begriff der Biodiversität erweitern, um die kulturelle Diversität hinzufügen zu können, so dass diese zur Inspiration des Begriffes Bibliodiversität wird.

Multiversität ist eine erkenntnistheoretische Herangehensweise, die den Ort und den Kontext des/der Wissenden miteinbezieht. Sie schätzt den Wert von lokalem Wissen. Sie versucht nicht diejenigen in ein Korsett zu zwängen, die die originellsten Ideen einbringen, Ideen, die dem Mainstream mit seiner globalen Unterstützung von Religion, Kapital, libertären Konsumverhalten und Militarismus widersprechen.

Bibliodiversität ist ein komplexes sich selbst unterstützendes System von Storytelling, Schreiben, Veröffentlichen und anderen Arten der Produktion von Oratur und Literatur. Die AutorInnen und ProduzentInnen sind mit den BewohnerInnen eines Ökosystems vergleichbar. Bibliodiversität trägt zu einem lebendigen kulturellen Leben und zu einem gesunden öko-sozialen System bei. (...)

Für Wildes und Unangepasstes

»Wenn ich nicht tanzen kann, ist es nicht meine Revolution.« So lautet ein Zitat, das Emma Goldman zugeschrieben wird. Ich würde hinzufügen: »Wenn Gedichte nicht länger veröffentlicht werden, will ich nicht länger Teil dieser Branche sein.«

Das Wilde und Unangepasste ist für die Existenz und den Fortbestand der Bibliodiversität zentral. Wir sollten diejenigen nicht ausschließen, die unsere Komfortzone herausfordern.

Dominante Sprachen setzen sich oft durch. Nicht nur indem sie regionale Sprachen überfluten, sondern auch indem sie bestimmte Formen der vorherrschenden Sprache in den Hintergrund drängen. Wir sollten alle wenigstens eine andere Sprache lernen. Wir sollten uns alle für eine faire Sprache einsetzen - nicht nur für freie und laute Meinungsäußerungen.

Wir sollten uns dafür einsetzen, dass beide Hälften der Menschheit Teil unserer bibliodiversen Gesellschaften sind. Das bedeutet, dass Männer lernen müssen, anders zu lesen und anders zuzuhören sowie auch anders zu denken.

Wir sollten nicht nur die Anzahl verkaufter Bücher zählen - wie wollen wir denn die Auflagen der Bücher von Virgina Woolf und Zora Neale Hurston aus dem Jahr 1937 zählen? Und wie die Titel, die ins Englische übersetzt wurden, wie z. B. von Stieg Larsson und Mahmoud Darwish aus dem Jahr 2000? Wen werden wir zählen? Wer waren und wer sind die Sichtbaren zu der Zeit, in der wir zählen? Hätten wir uns später gewünscht, dass wir auch diejenigen gezählt hätten, die schwierig zu finden waren (statt der Sichtbaren)? Der Prozess des Zählens sagt eigentlich, dass nur die Zählbaren etwas wert sind. Anders gesagt: Ein Buch, von dem 100 000 Exemplare verkauft werden, soll gut sein, eines, von dem nur 100 Exemplare verkauft werden, soll nicht zählen? Dies widerspricht der Bibliodiversität.

Lasst uns bibliodiverse Brennpunkte erkennen, statt abwärtsstrukturierte Marketing-Gelage namens »Festivals«.

Lasst uns sicherstellen, dass wir Bibliodiversität aufrechterhalten und unterstützen, wenn wir die Arena des digitalen Publizierens betreten.

Lasst uns nicht rekolonialisieren.

Lasst uns sicherstellen, dass wir einen guten Boden haben, auf dem verschiedene kulturellen Formen, Geschichten und ihr Inhalt gut wachsen und ihre soziale Integrität behalten, und dass wir sie unterstützen.

Lasst uns die internationalen Handelsverträge in Frage stellen, die Infrastrukturen von Großunternehmen bevorzugen.

Lasst uns nicht aufhören, die Idee der Gleichheit des Resultats einzufordern.

Lasst uns unabhängige Herangehensweisen in der ganzen Buchbranche unterstützen: als AutorInnen, ÜbersetzerInnen, VerlegerInnen, VertrieblerInnen, RezensentInnen, BuchhändlerInnen, BibliothekarInnen und in den Medien.