nd-aktuell.de / 23.03.2017 / Kultur / Seite 29

Wer nichts zu verlieren hat ...

Fatma Aydemir über die Wut auf jene, »die es geschafft haben«

Fokke Joel

Hazal ist in der Tradition gefangen. Mit ihren aus der Türkei stammenden Eltern und ihrem Bruder wohnt sie in einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung in Berlin. Jeder Schritt wird von Eltern und Nachbarn überwacht, jedes Gespräch mit einem Jungen als »unsittlich« zu Hause gemeldet und geahndet. Eine soziale Kontrolle, die auch nicht aufhört, als Hazal 18 wird. Ihre Eltern interessiert ihre Volljährigkeit einfach nicht. Und Hazal hat nicht den Mut aufzubegehren. Wirklich frei fühlt sie sich nur mit ihrer Freundin Elma. »Ich spüre wieder dieses Brennen im Bauch, dieses Gefühl, dass ich alles kann, wenn ich nur mit Elma unterwegs bin.« Aber die beiden reißen auch einem Mädchen aus der Parallellklasse die Haare raus, nur weil sie sie »dumm angeguckt« hatte.

Fatma Aydemir: Ellbogen[1].[2] Roman. C. Hanser Verlag. 272 S., geb., 20 €.

Es ist Hazals Wut gegen die, die »es geschafft haben«, gegen das Establishment der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die Fatma Aydemirs Roman »Ellenbogen« prägt. Das liegt auch daran, dass die Autorin die Geschichte von ihrer Antiheldin selbst erzählen lässt. Zwar verengt sich dadurch die Perspektive, aber es wird auch etwas deutlich, das in einem Roman mit einem allwissenden Erzähler verloren gegangen wäre: die Intensität dieser Wut. Im Laufe des Romans versteht man Hazals Lebensgefühl immer besser. Es sind die ständigen realen, aber auch nur gefühlten Demütigungen zusammen mit dem sozialen Druck, den Hazals Eltern ausüben, die den Boden für die Katastrophe vorbereiten.

Die Szene auf dem U-Bahnhof, in der Hazal mit Elma und einer weiteren Freundin einen betrunkenen Studenten erst verprügelt und dann auf die Gleise stößt, erinnert an die zahllosen Taten von Rechtsradikalen in Deutschland. Auch sie sind von Demütigung und Perspektivlosigkeit betroffen.

Jemand, den alle aufgegeben haben, dem keiner mehr etwas zutraut, der hat nichts zu verlieren. Und wer nichts mehr zu verlieren hat, wer quasi Abfall für die Gesellschaft ist, warum sollte der sich an die Regeln dieser Gesellschaft halten? Zumal dann, wenn auch noch die Eltern als Vermittler ethischer Werte ausfallen. Hazals Eltern verlangen ein Verhalten von ihrer Tochter, das im diametralen Gegensatz zu der Freiheit steht, die fast alle anderen Mädchen in ihrem Umfeld haben. Einerseits kann sie deshalb die Moralvorstellungen ihrer Eltern nicht ernst nehmen, andererseits ist sie emotional von ihnen abhängig. Das legitimiert nicht Gewalt, es erklärt auch nicht alles; aber es beschreibt eine Konstellation von Umständen, die zu einer explosiven Mischung führen kann.

Fatma Aydemir gelingt in »Ellenbogen« der Spagat, einerseits ihre Heldin als durchaus sympathische Figur zu beschreiben, andererseits keinen Zweifel an der Unmenschlichkeit ihrer Tat zu lassen. Am Ende drückt sich das Entsetzen des Lesers über Hazals Brutalität in der Reaktion ihrer Tante Semra aus. Hazal war nach Istanbul geflohen, und Semra trifft sich dort mit ihr, um sie davon zu überzeugen, sich der Polizei zu stellen. »›Ich kann verstehen, dass es ein schlechter Abend war. Aber deshalb geht ihr zu dritt auf einen Betrunkenen los?‹, fragt sie Hazal. ›Nein‹, sage ich. ›Wir sind nicht auf ihn losgegangen, weil es ein schlechter Abend war. Sondern weil er es verdient hat!‹ ›Sag so etwas nicht!‹ Ihre Stimme bricht weg. Sie wollte, dass ich ehrlich bin, und nun schaut sie mich an, hilflos und ungläubig.«

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