nd-aktuell.de / 23.03.2017 / Kultur / Seite 27

Altersstörsinn

Franz Hohler gelingt es, Lesern jeder Lebensphase Genuss zu verschaffen

Alfons Huckebrink

Jemand sei »jung geblieben« oder »alt geworden« … Jahrhundertelang schien die unterschiedliche Wertschätzung beider Lebensphasen zementiert zu sein. Erst in unseren Tagen, da die Alten zahlreicher, rüstiger und - hoffentlich - auch bissiger geworden sind, bedarf es einer Neubewertung dieser letzten Lebensphase. Eine Aufgabe, der sich nicht nur PR-Agenturen längst gestellt haben. Auch die kulturellen Instanzen, darunter die Literatur, arbeiten an ihrer Umdeutung. Jetzt auch die Lyrik? Alt?

Franz Hohler: Alt? Gedichte[1]. Luchterhand. 96 S., geb., 16 EUR

Exakt so interpretierte ich das Fragezeichen hinter Franz Hohlers Titelwort, noch bevor ich einen Vers seiner neuen Gedichtsammlung gelesen hatte. »Morgens vor sechs/ schon wach zu sein/ dafür einzunicken/ bei Büchner, Brecht oder Shakespeare/ ist das normal?« Zumindest im Titelgedicht lotet Hohler die Dimensionen des Alterns im skizzierten Sinne aus und beglückt uns endlich mit einem deutlich gesetzten Kontrapunkt: »Warum aber/ trifft dich der Blick deiner/ frisch geborenen Enkelin/ mitten ins Herz/ und lädt dich auf/ mit Zuversicht/ Zukunft/ und Lebenssucht?« Diese Fragen eines lesenden Alten leiten somit über zu den Perspektiven des Lebens. Diese selbst zu bestimmen und einen kritisch störenden Blick darauf zu wahren, ist für jedes Alter existenziell. Letzterer gelingt Hohler in Texten wie »Kulturkonzept« oder »Einheimische Fauna«. Der bedauernswerte Greis von früher wird hier zum Glück nicht hochgetunt zum kaum weniger bedauernswerten Best Ager; jene bestimmte eisige Nähe wird niemals totgeschwiegen: »Irgend einmal/ nimmt der Tod/ die Sonnenbrille ab// und schaut dich an.« (»Warte nur«) Verstörend coole Direktheit.

In seiner Lyrik kann Hohler den Prosaautor nicht verleugnen, die syntaktischen Fügungen sind konventionell, die Metaphorik plausibel. Indessen bleibt er auch mit Mitte siebzig ein scharfer Beobachter. Die sprachliche Konzision, die der Leser an seinen Kürzestgeschichten schätzt, kommt hier den Gedichten zugute. Erfrischend sind erneut die Umdichtungen von Weltliteratur (Heine, Shakespeare, Sappho) ins Zürichdeutsch, ergreifend die Botschaft der Naturgedichte (»Osterglocken«) sowie die Hommage an ein gemeinsames Altwerden (»Private Weltgeschichte 1968 - 2016«). Und auch der Eros behauptet in diesem Tableau der Gefühle eine markante Position: »Wenn ich/ nachts/ meinen Arm ausstrecke/ zu deinem …« (»Spuk«).

In Hohlers schöner Sammlung wird der Altersstörsinn als Kunst manifest und zelebriert eine Haltung des In-der-Welt-Seins, die Lesern jeder Lebensphase Genuss verschaffen wird.

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