nd-aktuell.de / 23.03.2017 / Kultur / Seite 16

Nichts ist, wie es scheint

Brigitte Kronauers Figuren bestehen im Wesentlichen aus und in ihrem Erzählen

Werner Jung

Ihren Tübinger Poetik-Vorlesungen von 2011 hat Brigitte Kronauer den ebenso schlichten wie tiefgründigen Titel »Wirkliches Leben und Literatur« gegeben. Darin erzählt sie von einem Spaziergang, den sie als Neunjährige mit Vater und Bruder unternommen hat. Auf einer Wiese glaubt sie, eine Schlange gesehen zu haben, die sich, wie der prosaisch-väterliche Einsatz eines Stocks dann zeigt, als »eine weggeworfene Schirmkrücke« erweist.

»Ein läppisches Ereignis« zwar, wie Kronauer feststellt, zugleich aber eines mit nachhaltiger Wirkung. Denn die Autorin erkennt in dieser alltäglichen Begebenheit so etwas wie ein Initial. Rückblickend erscheint es ihr, als habe sie bereits damals beim nachträglichen Erzählen dieser Szene das Gefühl gehabt, sie müsse die Authentizität und Besonderheit, die Unmittelbarkeit des Erlebnisses mit all seinen Facetten, Täuschungen und Widersprüchen zu fassen und anderen, wie der Mutter, zu übermitteln versuchen. »Denn das war mein unbedingter Wunsch: Die Nicht-Augenzeugin sollte nachträglich unsere Gefühle durchmachen. Ich wollte meine Zuhörerin zunächst in Spannung versetzen, dann amüsieren, am liebsten meine Begleiter noch einmal mit.«

Ins Poetologische übersetzt, bedeutet das, die »Identität von Erlebnis« durchs »Bannen in der Darstellung« - »auch wider besseres Wissen«, wie sie hinzufügt - zu bewahren. Wobei es das Kennzeichen von großer Literatur sei, dass es ihr gelingt, uns als Leser in ihren Bann zu schlagen, uns in ihren Konstruktionen »die Luft einer vorübergehenden Heimatlichkeit atmen zu lassen, einer Weltbeleuchtung, in der man für eine Weile wohnen kann, deren Bildern, Nerven, Logik man sich anvertraut.«

Am Ende machen wir schließlich durch Literatur eine Erfahrung, weil diese immer eine »Versuchsanordnung« darstellt: Wir erfahren etwas über die Welt und Wirklichkeit, über Geschichte und Gesellschaft, was wir so eben noch nicht gelesen oder gesehen haben.

Um die Poetik-Vorlesung Brigitte Kronauers an dieser Stelle noch ein letztes Mal zu zitieren: »Literatur erfrischt und verfeinert unsere Sinne durch eine Ermutigung. Sie zeichnet uns nicht allein Formen des Hörens, Riechens, Schmeckens vor, jenseits der uns umgebenden Abgedroschenheit. Sie beweist uns: Nicht eigentlich unsere Wahrnehmungen sind eingeebnet in Pauschalisierung, nicht die Dinge sind verbraucht. Nur die Vereinbarungen, die von Milieu und Medien gestatteten Kürzel, die kollektiv erlaubte Verständigung darüber ist es.«

Dieses ästhetisch-poetologische Konzept lässt sich noch in zwei weiteren Kernüberlegungen zusammenfassen, die Brigitte Kronauer in anderen Zusammenhängen geäußert hat: »Literatur ist Konstruktion«, und es gehe nicht zuletzt darum, »die Ideologien der Wahrnehmung« durchsichtig zu machen. Mit beeindruckender Konsequenz vermag es die Schriftstellerin, dieses naturalistische Verfahren zurückweisende und an literarischen Avantgarden anknüpfende Erzählprogramm durchzuhalten. Der weite Bogen spannt sich von Brigitte Kronauers Romanerstling »Frau Mühlenbeck im Gehäus« und den Folgebänden »Rita Münster« und »Berittener Bogenschütze« bis zu den großen Texten der letzten Jahre, etwa »Gewäsch und Gewimmel« und - jetzt für den Leipziger Buchpreis nominiert - »Der Scheik von Aachen«, der Kronauers Erzählkunst auf seinem Höhepunkt zeigt.

In diesem gigantischen Erzählkosmos ist nichts so, wie es zu sein scheint - eindeutige Botschaften, ohnehin der Tod der Literatur, sind bei Kronauer nicht zu finden. Und so sind und bleiben die Figuren, allen anderen voran die 42-jährige Anita Jannemann, die ihrem Geliebten in ihre eigene Heimatstadt Aachen gefolgt ist, wo sie aushilfsweise in einem Antiquitätenladen arbeitet und, zumeist an Wochenenden, ihre laszive Tante Emmi mit allerlei Geschichten unterhält, vor allem eins: unsichere, unverlässliche, unglaubliche Personen, die im Wesentlichen nur aus und in ihrem Erzählen bestehen.

Wie drückt sich am Ende seines langen Sermons der ebenso finstere wie zynische Herr Marzahn aus: Kunst mache »die Dinge durchscheinend auf die Urgründe und Urhimmel hin«.

Nur - glauben kann man dies alles nicht, denn alles könnte zugleich auch wieder anders sein. Literatur und Kunst als Spiel mit Möglichkeiten.

Brigitte Kronauer: Der Scheik von Aachen. Roman. Klett Cotta, 400 S., geb. 22,95 €.