nd-aktuell.de / 24.03.2017 / Kultur / Seite 14

Die sogenannten kanonischen Fünf

Wanted: Jack the Ripper - einem Jahrhundertmysterium auf der Spur

Frank-Rainer Schurich

In einem Verbrecherlexikon von 1976 finden wir zu Jack the Ripper nur vier Zeilen. Er war der geheimnisvollste Massenmörder der Kriminalgeschichte, der in London am Ende des 19. Jahrhunderts Frauen umbrachte und bestialisch verstümmelte. Seine Identität ist bis heute nicht bekannt. Der Gegenplan zu dieser knappen Fallbeschreibung liegt von den Ripper-Experten Hendrik Püstow und Thomas Schachner vor, vom Verlag schon als »Standardwerk der Ripperologie« angepriesen. In der Tat gibt es im deutschen Sprachraum kein anderes Werk, das sich derart detailliert und umfassend mit den Verwirrungen des Falles beschäftigt.

1888/89 rechnete Scotland Yard diesem einen Täter aufgrund der gleichartigen grausamen Begehungsweisen sechs bis elf Morde zu. Heute geht man von fünf Tötungsdelikten aus. Die Opfer waren Prostituierte - sehr arm, mit Alkoholproblemen und ohne festen Wohnsitz. Alle lebten und starben im östlich gelegenen Whitechapel, im »Schmelztiegel der gescheiterten Existenzen«, wie die Autoren bemerken. Im Kapitel über London 1888 wird die Situation aus soziologischer Sicht anschaulich nachgezeichnet. Sodann werden die von dem Sadisten verübten Verbrechen exakt geschildert - anhand von Originaldokumenten aus den Polizei- und Gerichtsakten und aus der damaligen Presse. Es wird deutlich, dass die Polizei in diesen Mordtagen hilflos und überfordert agierte.

Wir erfahren, dass sich der Mörder in einem Brief an die Nachrichtenagentur »Central News Agency« angeblich sein Pseudonym Jack the Ripper selbst gab. Ein Faksimile findet sich im Buch. Der Absender schickte noch eine Postkarte hinterher, aber diese Schreiben, so lesen wir mit Erstaunen, scheinen die Erfindung eines geschäftstüchtigen Journalisten dieser Agentur gewesen zu sein.

Der Schlusspunkt der Mordserie wurde am 9. November 1888 gesetzt, als der Ripper ein Opfer in seiner eigenen Wohnung wie ein wildes Tier zerfleischte. »Danach«, so die Autoren, »nahm das Morden in Whitechapel ein plötzliches Ende. Warum die Mordserie so abrupt abbrach, ist bis heute ebenso ungewiss wie die Identität des Täters.«

Der Fall wurde 1892 viel zu früh zu den Akten gelegt, man ermittelte nicht mehr. Auch das war der Nährboden für den Mythos um einen Serienmörder, der erstmalig weltweiten Ruhm erlangen sollte. Hobby- und Profikriminalisten beschäftigten sich fortan mit dem Fall. Bis heute sind sie besessen davon, den Fall doch noch aufzuklären. Mittlerweile, so die Autoren, gibt es mehr als 150 Verdächtige, zahlreiche Monografien, Sammelbände und Artikel - mit den abenteuerlichsten Theorien, die zur weiteren Legendenbildung beitrugen. Selbst der Autor von »Alice im Wunderland«, Lewis Carroll, und der zeitgenössische Schauspieler Richard Mansfield, der im Theaterstück »Dr. Jekyll und Mr. Hyde« auftrat, wurden verdächtigt.

Wie sind die Aufklärungschancen? Null. Das Buch beweist aber, dass die Historiographie um den englischen Serienmörder auch eine Geschichte von Lügen, Halbwahrheiten und Fälschungen ist. Einige Hobbyforscher hatten in der Vergangenheit felsenfest behauptet, nun endlich den wahren Jack the Ripper gefunden zu haben. So ist die durch ihre »Scarpetta«-Kriminalromane reich gewordene Autorin Patricia Cornwell davon überzeugt, dass der deutschstämmige englische Maler Walter Sickert der Ripper ist. Der Fall Sickert wird natürlich ausführlich geschildert. Dazu werden 19 andere Personen mehr oder weniger unter die Lupe genommen und als Täter ausgeschlossen. Am Ende der Abschnitte werden die Argumente zusammengefasst, die für oder gegen eine Täterschaft sprechen. Hier wird am deutlichsten, dass die »Ripperologie« eine Pseudowissenschaft, ein Steckenpferd darstellt. Bei Walter Sickert z. B. soll, wie die Autoren meinen, für eine Täterschaft sprechen, dass sich in seiner Kunst häufig Darstellungen von Gewalt finden. Eine ziemlich abenteuerliche Erklärung.

Man kann nur hoffen, dass Jack the Ripper nie identifiziert wird, denn dann würde diese ganze ominöse »Ripperologie« wie ein Kartenhaus einstürzen. Und wer will das schon?

Hendrik Püstow/Thomas Schachner: Jack the Ripper. Anatomie einer Legende[1]. Militzke. 303 S., geb., 22,90 €.

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