nd-aktuell.de / 08.04.2017 / Kultur / Seite 22

Die digitale Jogginghose

Wie das »Texten« mit dem Smartphone unsere Kommunikation verändert

Wolfgang M. Schmitt

Als die Filme noch stumm waren, mussten Kinozuschauer nicht nur Gestik und Mimik der Schauspieler lesen, sondern auch Texttafeln, die die gesprochenen Dialoge wiedergaben. Mit dem Tonfilm verschwand die Kulturtechnik des Schriftlesens aus den Kinosälen, es sei denn, man sah sich Filme mit Untertiteln an. Seit einigen Jahren jedoch ändert sich dies. Zwar sind die Filme keineswegs wieder tonlos, sondern eher zunehmend lauter geworden, trotzdem haben Texteinblendungen Hochkonjunktur. Das liegt an der sogenannten digitalen Revolution. Wohl nie zuvor in der Menschheitsgeschichte wurde so intensiv schriftlich kommuniziert: 2015 verschickte ein WhatsApp-Nutzer durchschnittlich 1200 Nachrichten monatlich. Hinzu kommen SMS, E-Mails, Tweets und Facebook-Posts. Telefoniert hingegen wird weniger, besonders junge Menschen tippen lieber als anzurufen. Das macht Bahnfahrten wesentlich angenehmer.

Drehbuchautoren müssen - sollen die Filme weiterhin am Puls der Zeit bleiben - auf diesen Trend reagieren. In den 1980er und 1990er Jahren gehörte das Telefonat noch zum festen Bestandteil einer jeden Komödie oder Sitcom, gerne wurden auch durch den Split Screen beide Gesprächspartner sichtbar gemacht. Heute sieht man auf der Leinwand häufig Chatverläufe, eingeblendete Tweets und SMS. Wenn Figuren im Gegenwartskino sich verabreden wollen, sich streiten oder wieder vertragen, tun sie das immer seltener von Angesicht zu Angesicht, stattdessen senden sie Textnachrichten mit ihren Smartphones - telefoniert wird nur zur Not, wenn man die Polizei oder Feuerwehr alarmieren muss.

Die Sprachwissenschaftlerinnen Christa Dürscheid und Karina Frick haben über diese neuen schriftlichen Kommunikationsformen einen lesenswerten Essay unter dem Titel »Schreiben digital« verfasst. Auch ihre Diagnose lautet: »Die Kommunikation über räumliche Distanzen hinweg gestaltet sich - zumindest unter den Jüngeren - in erster Linie fernschriftlich, nicht mehr fernmündlich.« Doch hat sich das Schreiben durch das Internet stark gewandelt; diesen Wandel beschreiben die Autorinnen und räumen dabei mit dem beliebten Vorurteil auf, die Schrift werde zunehmend durch das Bild abgelöst. Diese Befürchtung lässt sich nicht belegen, »eine piktorale Wende gibt es nicht«, lediglich verändere sich die »typografische Gestaltung von Text«, in den mehr und mehr Bilder und Emojis integriert werden. Das digitale Schreiben ist enorm vielfältig, sodass man nicht, entgegen den Behauptungen mancher Kulturkritiker, von »einer Netzsprache« oder »einem Cyberslang« sprechen kann. Dafür vollzieht sich der Sprachwandel einfach zu schnell und keineswegs in allen Generationen und Milieus gleich.

Auch die Sprachwissenschaft hinkt mit ihrer Forschung hinterher. Dürscheid und Frick verstehen es, für jeden Sprachinteressierten die aktuellen linguistischen Fachdiskurse verständlich und anschaulich darzustellen. Das ist ein Verdienst, das keineswegs selbstverständlich ist für Linguisten, die sich zwar oft eingehend mit der Alltagssprache auseinandersetzen, diese aber in ihren Publikationen zumeist scheuen wie ein WhatsApp-Nutzer die Groß- und Kleinschreibung. Bisweilen geraten die Definitionen einzelner Kommunikationsformen wie SMS, Chat oder E-Mail zu detailverliebt; damit mag einer sprachwissenschaftlichen Exaktheit Genüge getan werden, doch bringt dies eine gewisse Umständlichkeit in den Essay. Auch sind nicht alle Erkenntnisse überraschend, doch sind es die Begründungen, warum diese oder jene Schreibweise praktiziert wird. Jeder wird festgestellt haben, dass Abkürzungen und Kurzformen typisch für das digitale Schreiben sind. Klar, sie sind praktisch, vor allem, wenn es - wie bei Twitter - eine Zeichenbegrenzung gibt. Jedoch zeigen Dürscheid und Frick, dass sie auch dort verwendet werden, wo genug Raum für Ausführliches wäre. Hier fungieren Kurzformen als besondere Stilmittel. Wer »gute n8« oder »4 you« schreibt, will mit den Zeichen und ihren Bedeutungen spielen.

Kreativ kann auch der Gebrauch von Anglizismen sein, die eher selten verwendet werden, was wiederum Sprachpuristen freuen müsste. Ohnehin, so die Autorinnen, seien Anglizismen eben keine englischen, sondern deutsche Wörter - wie es an den Prä- und Suffixen in »gegoogelt« oder »downloaden« abzulesen ist. Die deutsche Sprache schwebt also nicht in Lebensgefahr. Und um die Höflichkeit ist es nicht unbedingt schlecht bestellt, wenn Begrüßungs- und Verabschiedungsformen wegfallen, weil sie überflüssig sind, wenn die vorherigen Nachrichten im Chat oder Messenger angezeigt werden. Überdies kann die Kommunikation ohne formelhaften Einstieg auf eine besonders enge Beziehung der beiden Gesprächspartner deuten. Das Internet ermögliche es, »schweigend Gespräche miteinander zu führen«, wird die Sozialpädagogin Helga Schäferling zitiert. Deshalb orientiert sich das Texten, wie Jugendliche es nennen, stark an der gesprochenen Sprache, die selten druckreif ist und die immer schon mit Auslassungen arbeitete wie etwa Tilgungen (eine - ne), Reduktionen (müssen - müssn) oder Assimilationen (noch einen - nochn).

Ausführlich setzten sich die Autorinnen mit dem Vorwurf des Sprachverfalls angesichts des digitalen Umbruchs auseinander. In Zeitungen und Zeitschriften ist regelmäßig zu lesen, dass Orthografie und Grammatik nicht mehr richtig beherrscht werden. Vor allem junge Leute werden harsch kritisiert. Schuld daran sei »das Internet«. Diesen Sprachwandel wollen Dürscheid und Frick nicht normativ bewerten, sondern fordern, »Veränderungen in der Sprache als Fortschritt« zu begreifen. Die Sprache diene der Kommunikation und in ihr spiegle sich ein gesellschaftlicher Wandel wider, den sie »Informalisierung« nennen. Formen und Konventionen werden nicht nur schreibend überschritten, sondern überall. Das mag so sein, doch die Sprache auf ein reines Kommunikationsmittel zu reduzieren, ist in etwa so, als würde man die Mode bloß als etwas zum Anziehen betrachten. Dabei ist das Schreiben stets auch eine Frage des guten oder schlechten Stils. Ist das Versenden eines Emojis nicht wie das Tragen einer Jogginghose, nämlich ziemlich geschmacklos? Von sprachlicher Schönheit und Eleganz ist in dem Essay überhaupt nicht die Rede.

Warum jeder Sprachwandel ein Fortschritt sein soll, was ja eine teleologische Sicht auf Sprache impliziert und zudem auch eine normative, positive Setzung ist, bleibt ungeklärt. Doch auch wenn die Autorinnen keinen sprachkritischen Ansatz verfolgen, stellt sich durch die Lektüre doch das ein, was das primäre Anliegen der Sprachkritik ist: ein reflektierter Sprachgebrauch.

Christa Dürscheid, Karina Frick: Schreiben Digital. Wie das Internet unsere Alltagskommunikation verändert. Kröner-Verlag, 156 S., br., 14,90 €.