Frau Paula Trousseau

Christoph Hein

  • Lesedauer: 12 Min.
In den drei Wochen bis zum Semesteranfang sprach Hans kein Wort über mein Studium. Er blendete es vollkommen aus, als könnte sein Stillschweigen es aus seinem und meinem Leben streichen. Mir war das recht. Was zu sagen war, hatte ich gesagt. Meine Freundin Katharina hatte mir eine Unterkunft in Berlin besorgt, in Weißensee, nur eine Viertelstunde von der Hochschule entfernt, ein Zimmer in der Dreizimmerwohnung einer alleinstehenden älteren Dame, die das Mietgeld benötige und mir gewiss bei meinem Baby helfen werde. Eine Woche, bevor ich aufbrach, erkundigte sich Hans, wo ich wohnen werde. Als ich es ihm sagte, erklärte er, er habe für mich eine sehr viel bessere Möglichkeit ausfindig gemacht. Ein Studienfreund bewohne mit seiner Familie ein Einfamilienhaus in Wendenschloß, im Süden der Stadt, und sei bereit, die Einliegerwohnung, in der bis zu ihrem Tod die Schwiegermutter gelebt hatte, mir zu überlassen, ich hätte dann zwei Zimmer mit kleiner Küche und einem eigenen Bad, und das würde ich benötigen, wenn das Baby da wäre. Er sagte es sehr stolz, er war wiedermal mit sich mehr als zufrieden und fand sich vermutlich generös. Ich dachte nur, er will mich wieder bevormunden, er will durch seinen Freund die Kontrolle über mich behalten, und vermutlich wird er zweimal in der Woche mit ihm telefonieren, um sich über mich zu erkundigen und herauszubekommen, was ich so treibe, mit wem ich ausgehe, ob ich über Nacht nicht nach Haus komme. Ich sah Hans an, ohne eine Miene zu verziehen, holte den Stadtplan, suchte die Straße und sagte, dass ich mit einem Baby nicht jeden Tag stundenlang in der Bahn sitzen könnte. Er wurde sofort wütend, sagte, ich sei undankbar, sein Freund werde gekränkt sein, wenn ich das großzügige Angebot ausschlage, ich sollte gefälligst einmal im Leben nicht nur an mich denken. »Ich denke zum ersten Mal in meinem Leben an mich«, erwiderte ich, »ich fange gerade erst an, endlich auch einmal an mich zu denken.« Überraschenderweise hielt ich mich in diesem Moment für unglaublich grausam, aber auch das genoss ich. Es ist angenehm, grausam zu sein, wenn man dadurch zu sich kommt. Rücksichtslose Egoisten sind offen, unverstellt, ehrlich, gradlinig. Es gibt keine Wünsche bei ihnen, die sie nicht äußern, das macht den Umgang mit ihnen einfach. Nicht gerade leicht, aber einfach. Ich fasste an meinen Bauch und strich sanft darüber. Vielleicht hatte ich es meinem Baby zu verdanken, dass ich endlich zu mir selbst kam. Mein Baby war schon jetzt mein bester Freund, obwohl es noch nicht auf der Welt war. Wenn mir noch jemals eine Freundin etwas vorjammern sollte, würde ich ihr vorschlagen, sich umgehend ein Baby anzuschaffen, damit sind alle Probleme auf einen Schlag gelöst. »Zum ersten Mal in meinem Leben denke ich an mich«, wiederholte ich langsam meine Worte, aber diesmal sagte ich es nicht zu ihm, sondern zu mir, und lächelte ihn dabei an. Das Studium war schön. Vielleicht die beste Zeit in meinem bisherigen Leben. Ich war selbstständig und unabhängig, die Eltern nervten nicht, und Hans hatte sich zähneknirschend damit abgefunden, eine Frau zu haben, die ihren Kopf durchsetzt. Ich musste mich vor keinem für irgendetwas verantworten, und ich konnte malen. Ich konnte und sollte und musste den ganzen Tag malen, das war herrlich. Ich habe jede Stunde an der Hochschule genossen, für mich war jeder Tag an dieser Schule ein Festtag. In den Ferien war ich bei Hans in Leipzig oder wir verreisten gemeinsam, aber in diesen Zeiten habe ich mich ständig danach gesehnt, wieder nach Berlin zu fahren und zur Schule zu gehen. Ich habe alle Fächer gern studiert, auch die theoretischen und politischen, ich fand alles wichtig und aufregend und konnte nicht genug davon bekommen. In der Plastik war ich recht gut, und in der Schrift, nur in Kulturgeschichte langweilte ich mich. Im ersten Semester hatten wir noch keinen Unterricht bei Professor Tschäkel, doch er lud mich in seine Klasse ein, was ich natürlich sofort annahm. Er behandelte mich sehr zuvorkommend, wie eine Prinzessin, weil ich schwanger war oder weil ich ihm gefiel. Die Kommilitoninnen bemerkten es natürlich sofort und dichteten mir ein Verhältnis mit ihm an, aber mit Tschäkel hatte ich nie etwas. Ich konnte ihn gut leiden, seit unserem Gespräch über meine Schwangerschaft, und er hatte mich gern, das war alles. Vor den Weihnachtsferien fragte er mich, ob ich im neuen Jahr nicht einmal Modell in seiner Klasse sitzen wolle. »Nackt?«, fragte ich entsetzt. Er lachte und sagte: »Ganz wie Sie wollen, Paula. Ich möchte nur, dass die Klasse eine Schwangere zeichnet. Und ich möchte Sie zeichnen. Nackt oder nicht nackt, das ist nicht wichtig, die Schwangerschaft möchte ich sehen.« Ich war ganz atemlos und nickte nur. In den Weihnachtsferien dachte ich immer wieder darüber nach. Mich störte der Gedanke, mich vor den Kommilitonen auszuziehen. Ich wusste ja, wie sie über manche der Modelle reden und nach der Stunde über sie herziehen. Und wenn die Jungen von einem Modell mal begeistert waren, dann gab es ganz gewiss ein Mädchen, das etwas auszusetzen fand und es laut verkündete. Ich scheute das Gerede, zumal sie alle im dritten Studienjahr waren und ich im ersten Semester. Für Tschäkel allein hätte ich es sofort gemacht, bei ihm hatte ich keine Hemmungen. Mehrmals ging ich den Kleiderschrank durch, um etwas zu finden, was ich anziehen könnte, so dass ich nicht nackt war, aber Tschäkel seine Schwangerschaft sehen konnte. Zur ersten Zeichenstunde im neuen Jahr bei Tschäkel erschien ich in meinem rosafarbenen Kostüm. Er erkundigte sich, ob ich es mir überlegt habe, und als ich nickte, fragte er, ob ich gleich bereit sei oder erst in einer der nächsten Stunden Modell sitzen wolle. »Bringen wir es hinter uns«, sagte ich. Er stellte sich vor die Klasse und informierte sie, dass heute eine Schwangere gezeichnet werde und ich mich freundlicherweise bereit erklärt habe, das Modell abzugeben. Er erwarte, dass alle diese Entscheidung ihrer Kommilitonin zu schätzen wissen, und er wolle ein paar Blätter zu sehen bekommen, für die er sich nicht schämen müsse. Dann sah er zu mir, ich stand von meinem Platz auf und ging zu ihm nach vorn. »Wo wollen Sie sich hinsetzen, Paula?«, fragte er und wies auf die Sammlung alter Möbelstücke neben der Tür. »Ich setze mich in den Sessel«, sagte ich leise. Er nickte und rückte den Armstuhl, auf den ich gezeigt hatte, in die Mitte des Saals. Tschäkel sah mich fragend an und erkundigte sich, ob ich in dem Kostüm Modell sitzen oder nicht doch etwas ablegen wolle. »Wir wollen schließlich eine Schwangere zeichnen«, sagte er, »von Ihrem Bauch müsste etwas zu sehen sein.« Ich nickte, dann betrachtete ich die Kommilitonen, einen nach dem anderen. Ein Mädchen lächelte mir aufmunternd zu, die anderen waren mit ihren Stiften und den Zeichenblöcken beschäftigt und schauten nur gelegentlich zu mir, um zu sehen, wie weit ich war. Für sie war ich bloß ein Modell, das sie zu zeichnen hatten. Ich ging hinter die alte Wandtafel, dort zogen sich gewöhnlich die Frauen und Männer aus oder um, die an unserer Schule für ein paar Mark als Modell arbeiteten, und schlüpfte aus den Schuhen. Dann legte ich das Kostüm ab und zog mir den Unterrock und die Strümpfe aus. Ich war nur noch mit einem schwarzen T-Shirt und einer Unterhose bekleidet. Das Shirt wurde von meinem Bauch nach oben geschoben, die Hose nach unten. Die prächtige Kugel, zu der mein Bauch mittlerweile angewachsen war, duldete keine Unterwäsche, sie drängte sich hervor und alles andere beiseite. Ich hatte das Gefühl, von meinem Bauch beherrscht zu sein. Ich schaute kurz zu Tschäkel, ging zu dem Armstuhl und setzte mich. Ich schlug die Beine übereinander, dann stellte ich sie nebeneinander und streckte schließlich das rechte weit vor. Einen Moment lang dachte ich daran, die Arme vor der Brust zu verschränken oder vielmehr, sie über meinen Bauch zu legen, doch dann legte ich sie einfach auf die Armlehnen, so locker und bequem, wie es mir möglich war. Ich hatte ein paar Wollsocken mitgenommen, die ich zusammengerollt in der Hand trug, ich wollte sie mir anziehen, falls mir kalt wird. Tschäkel hatte sich auf meinen Arbeitsplatz gesetzt, er nickte mir zu und sagte, ich solle mich bequem hinsetzen, dann bat er, dass ich mich zum Fenster drehe, er wolle mein Halbprofil haben. »Und den Kopf hoch, Paula. Ich will Ihren Stolz sehen. Ein stolzes, schwangeres Mädchen.« Es war ganz einfach. Die Kommilitonen zeichneten, sie schauten prüfend und fixierend zu mir, dann beugten sie sich über ihr Blatt, um zu arbeiten. Tschäkel freute sich. Auch er zeichnete zügig, und wann immer er mir ins Gesicht sah, strahlte er. Ich wurde ruhig und sicher. Nachdem ich fünf Minuten still gesessen und meine Position zu halten versucht hatte, stand ich auf, zog das Shirt und die Unterhose aus, die Hose warf ich hinter die Wandtafel, das Shirt legte ich als dünnes Kissen auf den Stuhl und setzte mich wieder. Nun waren sie überrascht, aber keiner sagte etwas. Tschäkel machte mit der Hand eine anerkennende Geste, die anderen sahen mich an, schauten mir in die Augen, dann betrachteten sie den nackten Körper. Für einen Moment war es völlig still im Zeichensaal, weder war das Knistern von Papier noch das fast unhörbare Geräusch des Strichelns der Stifte und Kohle wahrzunehmen. Es war so still, dass man die Schritte auf dem Gang über dem Saal hörte. »Bravo«, rief Tschäkel und klatschte dreimal in die Hände, »wunderbar, Paula, wunderschön.« Er riss das gerade benutzte Blatt des Zeichenblocks ab, ließ es auf den Boden fallen und begann auf einem neuen Blatt zu skizzieren. Auch die anderen wechselten die Blätter, und nur zwei oder drei, ich saß weiterhin im Halbprofil mit dem Gesicht zum Fenster und konnte die Klasse bloß aus dem Augenwinkel sehen, zeichneten einfach weiter. Tschäkel hatte Recht, eine schwangere Frau brauchte überhaupt nichts, sie war so schön, dass sie auf alles verzichten konnte. Und mein gewaltiger Bauch stellte im Wortsinn ohnehin alles in den Schatten. Er war bedeutsamer als mein Kopf und meine Brüste, und er verdeckte vollständig mein Geschlecht. Er beherrschte mich, und das konnten und sollten auch alle sehen. Ich thronte eine halbe Stunde in der Mitte des Zeichensaals. Irgendwann bat mich Tschäkel, ich möge mich en face hinsetzen. Jetzt konnte ich ihm und den Studenten ins Gesicht sehen. Sie schauten immer wieder von ihrem Blatt auf, um mich zu betrachten, und ich sah, dass sie jedesmal nicht allein den Körperteil fixierten, den sie gerade skizzierten, sie sahen mir vielmehr beiläufig und wie zufällig in die Augen, aber ich spürte, sie wollten sich vergewissern, wie ich es aushielt, sie wollten überprüfen, ob ich meinem Mut gewachsen war. Ich lächelte sie an. Ich fühlte mich wie eine Göttin. Ich hatte Lust, aufzustehen und nackt, wie ich war, zu Tschäkel zu gehen, um ihn zu küssen. Auf einmal war alles ganz einfach. Und plötzlich erinnerte ich mich an die kleine Paula, das verfrorene Schulmädchen, das stundenlang auf einer eisigen Parkbank an der Bleiche gesessen hatte, weil sie gemalt werden wollte. Die Sitzung machte mich zum Star der Schule. Alle hatten davon gehört, Studenten wie Dozenten, und sie lächelten, wenn sie mich sahen. Mit wem immer ich zu tun hatte, wo immer ich erschien, stets gab es für mich zur Begrüßung ein anerkennendes Lächeln. Durch keine andere Leistung hätte ich so viel Hochachtung und einhellige Bewunderung erreichen können, mit keiner Arbeit, keiner Note, keiner noch so wichtigen Belobigung hätte ich an der Hochschule mehr erreichen können, dabei war ich, wie ich erfuhr, nicht die erste und nicht die einzige Studentin gewesen, die sich als Aktmodell zur Verfügung gestellt hatte, aber ich war die erste schwangere Kommilitonin, die erste hochschwangere, die sich völlig nackt hingesetzt hatte. Blümchen Rührmichnichtan hatte ich geheißen, diesen Spitznamen hatte man mir an meinen ersten Tagen an der Schule verpasst. Ich lachte, als ich davon hörte. Ich fragte, wie man darauf gekommen sei, denn schließlich war es unübersehbar, dass ich schwanger bin, und Schwangersein und Rührmichnichtan, das passte nicht recht zueinander, doch ich hätte, wie ich hörte, auf Distanz geachtet. Dass man das Wort Distanz in einem Atemzug mit mir nannte, amüsierte mich. Zutreffender wäre es gewesen, hätte man mich als ängstlich oder feige oder schreckhaft bezeichnet, aber das Wort Distanz gefiel mir. Das klang nach Würde, und wenn meine erbärmliche Unsicherheit mir einen solchen Nimbus verschaffte, sollte es mir recht sein. Diese halbe Stunde im Zeichensaal war ein grandioser Erfolg für mich. Für eine kurze Zeit, für einen Monat, für die sechs Wochen, die ich hochschwanger in der Schule herumlief, war ich ein Star, und ich genoss es, ohne mir etwas anmerken zu lassen. Es war angenehm, bewundert zu werden, und es steigerte mein Hochgefühl, wenn ich die Aufmerksamkeit scheinbar nicht bemerkte. Wann immer ich Tschäkel über den Weg lief, strahlte er, blieb stehen und sagte irgendetwas zu mir. Ich glaube, wenn ich gewollt hätte, wenn ich ihm nur ein winziges Signal gegeben hätte, er hätte um meine Hand angehalten, so verliebt war er in mich.
Christoph Hein, 1944 in Heinzendorf / Schlesien geboren und in Düben bei Leipzig aufgewachsen, machte sich schon zu DDR-Zeiten einen Namen durch seine Dramatik und Prosawerke wie »Der fremde Freund« (1982), »Horns Ende« (1985), »Der Tangospieler« (1989) ... Später erschienen »Das Napoleonspiel« (1993) »Von allem Anfang an« (1997), »Willenbrock« (2000), »Landnahme« (2004), »In seiner frühen Kindheit ein Garten« (2005) sowie Stücke, Erzählungen, Essays und ein Kinderbuch. Zur Leipziger Buchmesse Mitte März ist im Suhrkamp Verlag ein neuer Roman von Christoph Hein angekündigt: »Frau Paula Trousseau«. In dem Auszug daraus, der hier erstveröffentlicht wird, ist diese junge Frau in einem Moment der Genugtuung zu erleben: Über alle möglichen Hindernisse hinweg hat sie sich den Traum erfüllt, an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee Malerei zu studieren. Davon wird sie weder ihr Mann abhalten noch das Kind, das sie in diesem Moment noch im Leibe trägt. Und sie genießt, was ihr bis dahin selten vergönnt war: liebevolle Anerkennung. Aber sie ist keine, die sich darin ausruhen kann. Eine Kämpferin ist sie, die in ihrem Streben nach Selbstverwirklichung auf nichts und niemanden Rücksicht nimmt. Nicht Geborgenheit sucht sie, sondern Freiheit. Aber was ist mit dem Bedürfnis nach Wärme, nach Liebe? Was mit der Verantwortung den Mitmenschen gegenüber? - Ein widersprüchliches Frauenschicksal, das den Leser noch lange beschäftigen wird.
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