nd-aktuell.de / 22.04.2017 / Reise / Seite 30

»Das ist ja schlimmer als eine Doktorarbeit«

Wie ich notgedrungen die Fahrschule absolvierte

Dr. Edith Gaida

Mein Mann war 1974 mit unserem Auto tödlich verunglückt. Seitdem waren Autos für mich etwas Gefährliches, Feindliches und schwer Beherrschbares. Aber ich wohnte in Alt-Töplitz, 18 Kilometer von Potsdam entfernt, und musste zur Arbeit an die Pädagogische Hochschule Potsdam (PHP). Die Busse von Potsdam in unser Dorf fuhren jedoch nur alle ein bis zwei Stunden. Ich musste dann immer erst von der PHP 25 Minuten auf der alten Heerstraße bis nach Bornstedt zur Haltestelle Katharinenholz laufen. Wehe, wenn ich zu spät dran war. Oft half dann auch mein Endspurt nicht mehr, und ich sah nur noch die Rücklichter des Busses. Manchmal, wenn er überfüllt war, fuhr er auch einfach durch, ohne anzuhalten. Dann war ich wütend und verzweifelt, denn zu Hause wartete nach dem Schulhort mein 6-jähriger Sohn auf mich.

Was blieb mir also anderes übrig, als meine Angst vor dem Autofahren zu überwinden. Für ein neues Auto musste man sich jedoch anmelden und eine Wartezeit von mehreren Jahren in Kauf nehmen. So erstand ich zuerst einen gebrauchten Trabi, natürlich - wie üblich - total überteuert. Dafür verwendete ich die Nachzahlung meiner Witwenrente (bis zur ersten Auszahlung verging einige Zeit) und alle Ersparnisse. Meine »Rennpappe« stand dann aber mehrere Monate unter dem Schleppdach auf dem Hof einer Bekannten in Alt-Töplitz, denn die Anmeldung in der Fahrschule zog auch längere Wartezeit nach sich. Aber auch die verging.

Endlich war es so weit! Die theoretische Prüfung war leicht für mich, da ich ja lange genug Zeit gehabt hatte, alles auswendig zu lernen. Die Stunden auf dem Fahrsimulator gestalteten sich schwieriger für mich, denn mir wurde regelmäßig schwindlig dabei. Als dann jedoch die praktischen Fahrstunden begannen, wurde es echt hart für mich, denn meine Angst vor dem Autofahren saß mir immer noch im Nacken.

Ich brauchte dann auch mit meinen 33 Jahren deutlich mehr Fahrstunden als die jungen Leute. Jedes Mal, wenn Fahrprüfungen anstanden, kam von meinem Fahrlehrer der Spruch: »Frau Gaida, Sie sind noch nicht so weit, wir üben noch ein bisschen.« Irgendwann stöhnte ich vor mich hin: »Das ist ja schlimmer als eine Doktorarbeit!«. Worauf mein immer etwas brummiger Fahrlehrer spöttisch auflachte: »Erst mal den Doktor machen, Frau Gaida.« Da war ich perplex und konnte nur noch entgegnen: »Habe ich schon.« Er schluckte. Das hatte er wohl in meinen Unterlagen übersehen und nur die Angabe zu meinem Beruf - nämlich Lehrerin - zur Kenntnis genommen. Nach der ersten Verblüffung folgte seinerseits nur noch lapidar: »Na dann …« Der Rest des Satzes blieb ungesagt.

Was er damit meinte, erfuhr ich dann jedoch in den verbleibenden Minuten dieser Fahrstunde: Lehrer stellten sich in seinen Augen sehr dumm an in den Fahrstunden, noch dümmer die Doktoren und am allerdümmsten die Professoren, getreu dem Klischee vom zerstreuten Professor. Diese Leute, so behauptete er, würden kaum jemals im ersten Anlauf die Fahrprüfung bestehen. Na ja, er hatte wohl in dieser Hinsicht seine Erfahrungen gemacht und breitete sie in den folgenden Fahrstunden genüsslich vor mir aus. Ich konnte mir also ausmalen, was mir bevorstand. Das stärkte natürlich nicht gerade mein Selbstbewusstsein. Von da an aber hatte ich so etwas wie Narrenfreiheit und einen recht nachsichtigen Fahrlehrer, denn ich war ja Lehrer u n d Doktor, also auf seiner Unfähigkeits-Skala recht weit oben!

Schließlich wurde auch ich zur Fahrprüfung zugelassen. Neben mir auf dem Beifahrersitz der Fahrlehrer, hinter mir ein Verkehrspolizist und ein weiterer Fahrschüler, der nach mir das Lenkrad übernehmen würde. Natürlich war ich furchtbar aufgeregt, denn ich glaubte zu wissen, worauf ich mich einzustellen hätte. Aber dann passierte etwas ganz Eigenartiges. Nachdem wir kreuz und quer durch Potsdam gefahren waren, bogen wir in die Friedrich-Ebert-Straße in Richtung Nauener Tor ein. Vor uns fuhr eine Straßenbahn, sie wurde immer langsamer, aber ich behielt mein Fahrtempo bei. Erst ziemlich spät durchfuhr es mich: Da war ja die Haltestelle vor dem Stadthaus! Gleich würde die Straßenbahn anhalten. Hilfe, schnell bremsen! Als ich fast in letzter Sekunde mit voller Kraft auf das Bremspedal trat, reagierte das zu meiner Verwunderung so leicht wie noch nie. Das Auto kam noch rechtzeitig zum Stehen…

Anschließend sollte ich in die Hegelallee einbiegen und anhalten. Da war ich mir sicher: Jetzt wird mir mitgeteilt, dass ich noch ein zweites Mal zur Prüfung antreten müsse. Aber nein, im Gegenteil! Der Verkehrspolizist gratulierte mir zur bestandenen Prüfung. Ihm hatte offensichtlich mein ungewollt rasanter Fahrstil soeben gefallen. So ganz konnte ich aber an den glücklichen Ausgang noch gar nicht glauben. Dann jedoch sah ich, dass der Fahrlehrer mir zuzwinkerte. Des Rätsels Lösung erfuhr ich hinterher unter vier Augen: Der Fahrlehrer hatte aus Sicherheitsgründen vor der Straßenbahnhaltestelle bereits vorsichtig mitgebremst, weil man doch bei Lehrern und Doktoren als Fahrschüler mit dem Schlimmsten rechnen müsse. Allerdings hatte ich dann doch durch mein etwas heftiges Bremsen das Auto allein zum Stehen gebracht, und er hatte sich keine Unkorrektheit oder Begünstigung zuschulden kommen lassen.

Aber ich wusste nun, dass manchmal ein Doktortitel auch für Nachsicht und Mitleid sorgen kann, zumindest wenn es um Fahrstunden und eine Fahrprüfung geht.