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Kiezkinder, Migrantenghetto

Perspektive deutsches Kino - Die Stars von morgen

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 3 Min.
Im letzten Jahr war er eher schwach vertreten, in diesem Jahr kommt der Dokumentarfilm mit Macht zurück: Unter den zwölf Titeln des einheimischen Berlinale-Talentschuppens Perspektive deutsches Kino macht er diesmal ein starkes Drittel aus. Den Max Ophüls-Preisträger des Filmfests Saarbrücken und nun schon traditionellen Abschlussfilm der Reihe noch gar nicht mitgezählt: In ihrem sehenswerten »Full Metal Village« beobachtet Regisseurin Sung Hyung Cho das gar nicht so harte Aufeinanderprallen von Heavy Metal-Fans und bäuerlicher Bevölkerung beim jährlichen Rockertreffen im schleswig-holsteinischen Wacken. Drei von vier Dokumentarfilmern der Perspektive finden ihr Thema in der menschlichen Misere von Hochhaussiedlungen (»Zirkus is nich«), in Problemen von Migrantensöhnen (»Osdorf«) oder dem multikulturellen Lebensalltag Kreuzberger Kieztöchter (»Prinzessinnenbad«). Einer wendet sich der deutschen Filmgeschichte zu und fügt den altbekannten Eckdaten der Karriere von Wim Wenders noch ein paar höchst private Momente hinzu: »Von einem, der auszog - Wim Wenders' frühe Jahre« des Ludwigsburger Filmakademieabsolventen Marcel Wehn. Auf den ersten Blick vielleicht der am wenigsten interessante Titel der Programmsparte, erweist er sich aber als filmisch einfallsreiche, überraschend freimütige Selbstentblößung des Menschen Wenders. »Osdorf« von Maja Classen, Absolventin der Babelsberger Filmhochschule und eine der vielen Regisseurinnen in der diesjährigen Auswahl, forscht in einem Hamburger Vorort nach den Gründen für die fatale gesellschaftliche Entwicklung, die jugendliche Gesetzesbrecher mit Migrationshintergrund und Macho-Allüren größeren Respekt unter ihren (männlichen) Altersgenossen genießen lässt als zukunftsorientiert Lernende. Und begleitet ein paar besonders auffällige Ghetto-Kids beim Besuch in der Jugendvollzugsanstalt Fuhlsbüttel. Die drei Kreuzberger Töchter meist multikulturell gemischter Elternpaare in Bettina Blümners »Prinzessinnenbad« sind sozial besser abgefedert: Ihre Ausdrucksweise mag ähnlich drastisch sein, was das Geschlechterverhältnis angeht, aber im Unterschied zu den in ihrem Männlichkeitswahn befangenen No-future-Jungs aus dem Osdorfer Born lässt ihr weiblich domininiertes Umfeld noch andere Zukunftsentwürfe zu. Solange jedenfalls, wie sie sich selbst und ihre Ausbildung ernster nehmen als die Rollenmuster, die ihnen vom männlichen Teil der Kiez-Jugend suggeriert werden. Wenn die Riege junger deutscher Regie-Hoffnungen nicht gerade Vorstadtmisere und innerstädtische Problembezirke unter die Lupe nimmt, bewegt sie sich, passend zu Autolobby und Autokanzlerin, auf Autobahnen voran oder schickt, vorzugsweise vom Standort Ludwigsburg aus, einsame Kämpfer mit Aggressionsstau in die Nacht hinaus (»Aufrecht Stehen«). Wie in den Vorjahren »Der Lebensversicherer« oder »Mitfahrer«, führt diesmal »Autopiloten« von dffb-Absolvent Bastian Günther den Zuschauer per Wagen übers endlose deutsche Autobahn- und Schnellstraßennetz. In Blechkisten auf den Straßen der Ruhr gefangen: vier Männer mittleren Alters, die empfindliche Schläge gegen ihr Selbstbild verkraften müssen. Auch die ausgebildete Dokumentarfilmerin Sonja Heiss (Filmhochschule München) ging mit ihren Darstellern auf Tour. Ihr Kleines Fernsehspiel »Hotel Very Welcome« erzählt in vier Parallelepisoden die Erlebnisse von fünf Personen auf der Suche nach dem Glück. Nur dass ihre Protagonisten - ein Ire, zwei Briten und zwei alleinreisende Deutsche - nicht mehr auf den heimischen Straßen, sondern an Thailands Stränden oder in Indiens Ashrams und Wüsten nach der Erfüllung ihrer Lebens-träume und der Antwort auf alle Fragen suchen. Unrast, Spaß- zwang und verbissene Sinnsuche des westlichen Wohlstandsbürgers sind gut beobachtet, die Einbettung in die realen Gegebenheiten vor Ort gibt dem Film ein halbdokumentarisches Flair. Außerdem gibt es wie üblich den kurzen Kunstfilm des Jahres (»Aschermittwoch«), einen neuen Pepe Planitzer mit dem immer sehenswerten Milan Peschel (»AlleAlle«), ein hervorragend besetztes Drama um eine Teenager-Schwangerschaft (»Was am Ende zählt«) und mit Claudia Lehmanns kurzem »Memoryeffect« und Ben von Grafensteins halblangem »Blindflug« zwei inhaltlich und formal überzeugende Fingerübungen.
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