Geburtstag mal anders

The Magnetic Fields

  • Michael Saager
  • Lesedauer: 2 Min.

Stephin Merritt ist ein Mann mit ehrgeizigen Plänen. Als sich der 1965 geborene Multiinstrumentalist und Sänger vor knapp zehn Jahren an das achte Album, »Distortion«, seiner Band The Magnetic Fields machte, sollte diese Platte klingen wie »Psycho Candy«, also ausgerechnet wie jenes legendäre Stück feedbacklastiger Musikgeschichte aus den Händen einer immer schlecht gelaunten britischen Band namens The Jesus and Mary Chain.

Obwohl das Resultat nicht wirklich überzeugte, fiepte, kreischte und dröhnte es doch ganz außerordentlich, mehr fast noch als das Original. Überzeugen mochte »Distortion« nicht, weil man von Merritt natürlich viel lieber wunderschöne Sachen wie »69 Love Songs« hören will. Auf dieser 3er-CD-Box von 1999 schuf der Mann mit dem charismatisch brummenden Bariton eine der zauberhaftesten Kammermusik-Lo-Fo-Elektronikpop-Platten überhaupt. Hier klingt er verspielt, melancholisch, hoffnungsvoll und vieldeutig zugleich.

Mit dem Erreichen seines 50. Geburtstags im Jahr 2015 setzte sich der in L.A. lebende Konzeptmusiker an sein bislang größenwahnsinnigstes Projekt. Das Resultat heißt »50 Song Memoir«, passt bestens in unsere memoirenverliebte Gegenwart und umfasst satte fünf CDs bzw. LPs. Obgleich die Idee darin bestand, einen Song für jedes Lebensjahr einzuspielen, ist Merritts Umgang mit der Zeit, mit zeittypischen Moden und Vorlieben, aber auch mit der eigenen Autobiografie, eher großzügig, auf charmante Weise sogar ein wenig fremdbestimmt: Seine Mutter erstellte eine Zeitleiste für seine erste Lebenshälfte, sein Manager eine weitere für die zweite. Aber unsere Vergangenheit gehörte ja noch nie uns allein. Und ohne die Erinnerung anderer wäre sie ausgesprochen schmal. Trügerisch ist sie sowieso. Im vorletzten, 49. Song »I wish I had a picture« singt Merritt: »But I’m just a singer, it’s only a song/ The things I remember are probably wrong.«

Die Texte sind witzig, tragikomisch, auf originelle Weise sprunghaft, zeitgeist-, aber nicht allzu pointenverliebt. Es geht um Merritts Teenagerjahre, durchtanzte Nächte, das späte Kennenlernen des Vaters, Bettwanzen, Merritts Lärmempfindlichkeit. Mit seismografischen Suchbewegungen spürt Merritt Verbindungen zwischen innen und außen, von Subjekt, Kultur und Gesellschaft auf. Was die Lyrics für die schnell gelangweilte Popkritik umso spannender macht.

Die Leistungsschau der 100 allein von Merritt gespielten Instrumente - von Ukulele übers Klavier bis zur Drum Machine - hört man auch dieser Platte kaum an. Es überwiegt das sympathisch verschrobene, ohrwurmselige Pop-Kleinod. Dass man den einen oder anderen Song bereits zu kennen meint, ist nicht weiter schlimm. Alle großen Künstler, die ihren Stil gefunden haben, wiederholen sich.

The Magnetic Fields: »50 Song Memoir« (Nonesuch/Warner)

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