Keimzelle der Arbeiterbewegung

Heinrich Hedemann gründete 1844 den »Handwerker-Verein in Berlin«

  • Friedrich Kleinhempel
  • Lesedauer: 3 Min.
Im Zuge industrieller Revolution mussten sich auch Handwerksgesellen ohne Chance auf eine Meisterposition im zünftisch-geschlossenen Handwerk in großer Zahl als Fabrikarbeiter verdingen. Mit Verbot des Zunftzwanges und Einführung der Gewerbefreiheit durch die Hardenbergschen Gesetze ab 1810/11 begann im Handwerk und darüber hinaus ein nie dagewesener Konkurrenz- und Überlebenskampf. Jedermann, ob Geselle, Berufsfremder oder Ungelernter, durfte für nahezu jegliche Produktion und Dienste eine Gewerbeerlaubnis lösen. Meisterbetriebe gingen reihenweise unter. Handwerkliche Ausbildung litt. Arbeiter wurden bloße Maschinenanhängsel. Löhne wurden gedrückt. Neues Massenelend setzte ein. Berlins Stadtverwaltung geriet in Zugzwang angesichts explodierender Probleme aus der prekären Lage des neuen, vierten Standes bei drohender Gefahr eigenständiger Organisation der »unteren Volksklassen« in der revolutionär aufgeladenen Zeit des »Vormärz«. Arbeiterbildung und kontrollierbare Geselligkeit taten not - so der behördliche Befund. Schon gab es anderenorts Arbeiter-, Arbeitergesangs- und Arbeiterbildungsvereine »zur Hebung der arbeitenden Klasse«. Stadtsyndikus Heinrich Hedemann konzipierte einen solchen Verein für Handwerksmeister, Gesellen und Arbeiter. Zwar gewährten unter anderen Bankier Hirschfeld, Kaufmann Ravené und Stadtrat Keibel Anschubfinanzierung, doch weil der König auf einem christlichen Bekenntnis bestand, scheiterte der erste Gründungsversuch im Januar 1844. Erst am 16. April 1844 kam es zur Gründung des »Handwerker-Vereins in Berlin«, um gemäß Statut »der fachlichen Bildung und der Geselligkeit zu dienen«. Der Verein wurde trotz der gar nicht revolutionär anmutenden Zielstellung Berlins erste Arbeiterorganisation. Der Verein unterhielt im Haus Johannisstraße 4 eine Bibliothek, abonnierte Journale, lud zu mannigfaltiger Bildung namhafte Gelehrte als Lehrer ein. Der erste Jahresbericht zeigte auf dem Einband erstmals das Symbol der brüderlich einander fassenden Hände. 1846 zählten zu den Mitgliedern etwa hundert Meister und fast zweitausend Gesellen und Fabrikarbeiter. Doch schon 1849, nach der Niederschlagung der 48er Revolution, wurde auch Berlins Handwerker-Verein, der dem König und der Regierung zu demokratisch geworden war, geschlossen, 1851 verboten. Als »Neuer Berliner Handwerkerverein« konnte er sich 1859 wieder gründen, saß nach wiederholtem Umzug schließlich im 1905 feierlich eröffneten »Handwerkervereinshaus« der Architekten Franckel und Kampfmeyer, mit der noch heute zu bewundernden stattlichen historischen Fassade in der Sophienstraße 17/18. In den vermieteten Sälen fanden während der folgenden Jahrzehnte ungezählte Versammlungen der Arbeiterbewegung, Auftritte sozialdemokratischer, sozialistischer und kommunistischer Politiker statt, welche so möglicherweise nicht Hedemanns, Hirschfelds oder Keibels ursprünglichen Absichten entsprochen haben mögen. Der Berliner Handwerker-Verein, wie die meisten Arbeiterbildungsvereine in Deutschland, wurde Keimzelle der sich entwickelnden Sozialdemokratie, die sich über mehrere Stationen (unter anderem Brüssel 1848, London 1850, Leipzig 1863, Eisenach 1869, Gotha 1875) zur politischen Partei herausbildete. Die Arbeiterklasse hatte einen langen revolutionären Weg vor sich. Noch immer litt die Arbeiterbildung unter den Umständen von Ausbeutung und Klassenausgrenzung. 1861 beklagte Berlins Magistrat, dass viele Lehrjungen in den Unternehmen »einseitig ausgebildet« werden »und später gar nicht mehr zur Verrichtung aller anfallenden Arbeiten ihres Handwerks fähig« seien. Heinrich Philipp August Carl Hedemann, dem das Verdienst der Planung, Gründung und anfänglichen Leitung des Berliner Handwerker-Vereins unbestritten gebührt, war am 16.8.1800 in Berlin geboren worden. Er hatte Jura studiert und war, gemäßigt liberal eingestellt, in Berlins Kommunalpolitik eingetreten, seit 1832 besoldeter Stadtrat, ab 1834 Syndikus (Jurist) der Stadt Berlin. 1860 wurde er Bürgermeister und Stellvertreter des Oberbürgermeisters - zwölf Jahre lang bis zu seinem Tode. Heinrich Philipp August Carl Hedemann gehörte dem Vorstand der Evangelischen Luisenstadtgemeinde an. Zuletzt wohnte er Schöneberger Straße 11. Gestorben ist er am 24. März 1872. Sein Ehrengrab befindet sich auf dem Friedhof der Luisenstadtgemeinde Am Südstern im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, in welchem überdies die Hedemannstraße an ihn erinnert.
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