Eine Lücke in der Mauer

Am Kaßberg-Gefängnis in Chemnitz wird an den Häftlingsfreikauf aus der DDR erinnert

  • Hendrik Lasch, Chemnitz
  • Lesedauer: 4 Min.

In der übermannshohen Mauer klafft eine Lücke. Auch der Stacheldraht, der sich auf der Mauerkrone um die einstige Haftanstalt auf dem Kaßberg in Chemnitz zieht, ist hier unterbrochen. Der Weg Richtung Westen ist frei - so, wie er sich einst für Tausende Häftlinge öffnete, die von dem Gefängnis im damaligen Karl-Marx-Stadt aus die DDR verließen und in die Bundesrepublik ausreisten. Diese zahlte im Gegenzug viel Geld: Rund drei Milliarden D-Mark nahm die DDR durch den Freikauf der Häftlinge ein.

Die Lücke in der Gefängnismauer sowie Schrifttafeln zu beiden Seiten bilden einen Gedenkort, der seit kurzem an dieses sehr spezielle und fragwürdige Kapitel der deutsch-deutschen Beziehungen erinnert. An dessen Beginn spielte die 1886 errichtete und seit 1952 vom Ministerium für Staatssicherheit betriebene Haftanstalt noch keine Rolle: 1963 zahlte die BRD erstmals 205 000 Mark, damit acht Häftlinge innerhalb der DDR frei kamen. Erst danach etablierte sich die Praxis, sie aus der Staatsbürgerschaft zu entlassen und in den Westen abzuschieben.

Ab 1966 wurden Betroffene auf dem Kaßberg gesammelt, bevor es per Bus in das Notaufnahmelager Gießen ging. Der Preis für den Freikauf betrug 40 000 Mark, bei zu langer Haft Verurteilten war er höher. Bis 1989 kamen so 31 775 Menschen frei, ein Drittel der in der DDR aus politischen Motiven Verurteilten.

Die Idee, auf dem Kaßberg an dieses Kapitel zu erinnern, entstand bereits kurz nach Schließung der Vollzugsanstalt, die 2010 aufgrund von Mängeln beim Brandschutz erfolgte. Ein Verein, dem Chemnitz Bürger und Zeitzeugen angehören, stellte Überlegungen an, wie eine Gedenkstätte in den unter Denkmalschutz stehenden Bau integriert werden könnte. Sie kamen indes knapp zu spät, als dass der Kaßberg in das 2012 überarbeitete sächsische Gedenkstättengesetz hätte aufgenommen werden können. Rückhalt vom Land gab es trotzdem: Im Landtag unterstützte eine Mehrheit von CDU bis LINKE das Projekt; im Etat 2013/14 wurden 900 000 Euro bereitgestellt. Dennoch geschah nichts. Der Freistaat hatte Mühe, einen Investor zu finden; bis heute ist das Ensemble nicht verkauft. »Man konnte das«, sagt Volkmar Zschocke, Fraktionschef der Grünen und Mitbegründer des Vereins, »durchaus als zermürbend empfinden.«

Der Verein ließ sich nicht entmutigen; er organisierte Vorträge, Ausstellungen und Führungen durch den Zellentrakt, an denen nach Angaben von Vereinschef Jürgen Renz pro Woche zwischen 40 und 100 Menschen teilnehmen: »Das Interesse ist groß.« Erst 2015 deutete sich eine Lösung an: Der Freistaat bot dem Verein ein Grundstück samt Gefängnismauer und Wachturm zum Kauf an. Diese Offerte weckte laut Zschocke indes Befürchtungen, das Land wolle sich »aus seiner politischen Verpflichtung freikaufen« und von einer Gedenkstätte im Gefängnis selbst verabschieden.

Erst nach langer Diskussion gab es eine Mehrheit für den Gedenkort, dessen Errichtung das Land seither mit 410 000 Euro förderte. Der Entwurf des Schweizer Architekten Martin Bennis darf als gelungen gelten - nicht nur mit Blick auf das Kapitel Häftlingsfreikauf. Das Gefängnis Kaßberg wurde auch in der NS-Zeit genutzt - als Haftanstalt der Gestapo, in der Regimegegner gefoltert wurden und teils zu Tode kamen.

Ein ausgewogenes Gedenken an derlei Orten mit »doppelter Vergangenheit« ist heikel gerade in Sachsen, wo NS-Opferverbände einst aus Protest gegen die einseitige Erinnerungspolitik die Arbeit der Gedenkstättenstiftung boykottierten. Am Kaßberg kommen beide Seiten indes angemessen zum Zug: Außen auf der Mauer wird an den Häftlingsfreikauf und die Zeit in der sowjetischen Besatzungszone erinnert; auf der Innenseite an die Zeit der NS-Diktatur, so die Ermordung von sieben Widerständlern im Hutholz im März 1945. Just zur Eröffnung gab es allerdings doch Ärger: Dass das Gefängnis in der Einladung für die NS-Zeit wie für die Jahre der sowjetischen Besatzungszone als »Tor zur Hölle« bezeichnet wird, hielt der NS-Opferverband VVN-BdA für »unzumutbar« und blieb der Eröffnung fern.

Vereinschef Renz hofft, dass sich die Wogen glätten und das »vernünftige Verhältnis« fortgesetzt wird. Zudem beharrt er darauf, dass der Gedenkort nicht der letzte Schritt ist: »Wir wollen weiter eine Gedenkstätte im Gefängnis«, sagt er: im Block B, der auch »Vogelkäfig« hieß - in Anspielung auf den Anwalt, der für die DDR den Freikauf organisierte. Voraussetzung ist, dass ein künftiger Besitzer dem zustimmt. Klarheit dürfte es bald geben: Man befinde sich in »fortgeschrittenen Verkaufsverhandlungen«, teilt der seit Januar zuständige Staatsbetrieb Zentrales Flächenmanagement (ZFM) mit. Details wolle man nicht nennen. Renz ist zuversichtlich, dass in einigen Jahren nicht nur Wohnungen und Büros im Gefängnis eingerichtet werden, sondern auch eine Gedenkstätte für ein sehr besonderes Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte.

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