nd-aktuell.de / 11.05.2017 / Kultur / Seite 10

Mehr Mogelpackung als Lösung

Neue Psychotherapie-Richtlinie schafft keine zusätzlichen Therapiestunden und korrigiert frühere Planungsfehler nicht

Henriette Palm

Seit Jahren werden fehlende Psychotherapieplätze, lange Wartezeiten von Wochen oder gar Monaten beklagt. Besserung sollten Veränderungen in der neuen PsychotherapieRichtlinie bringen, die seit 1. April gilt. Dabei geht es um eine Strukturreform der ambulanten Psychotherapie, darunter die Einrichtung von Sprechstunden. Diese soll Patienten einen zeitnahen und niedrigschwelligen Zugang zur ambulanten Versorgung ermöglichen. Im Rahmen einer Diagnostik soll während der Sprechstunde abgeklärt werden, inwiefern eine krankheitswertige Störung vorliegt und weitere Hilfe nötig ist.

Der Präsident der Berliner Psychotherapeutenkammer, Michael Krenz, geht davon aus, dass nicht jeder Patient, der in eine solche Sprechstunde kommt, anschließend psychotherapeutisch versorgt werden muss. Sie diene vielmehr dazu herauszufinden, »wo der Patient hingehört«. Wie viel Interpretationsspielraum die neue Richtlinie diesbezüglich bietet, zeigt eine Umfrage zum Thema in der Zeitschrift des Verbandes Psychologischer Psychotherapeuten (VPP) im Berufsverband Deutscher Psychologen, wonach die Sprechstunde vor allem der Information des Patienten (also weniger der Diagnostik) diene.

Psychotherapeuten entscheiden selbst, ob sie Sprechstunden anbieten. Tun sie dies, müssen sie mindestens zwei Stunden pro Woche dafür vorhalten. Pro Patient sind maximal sechs Einheiten von 25 Minuten angedacht, bei Kindern und Jugendlichen zehn.

Wer in der Vergangenheit versucht hat, einen Psychotherapeuten telefonisch zu erreichen, musste sich oft mit Anrufbeantwortern zufriedengeben, die so frustrierende Botschaften von sich gaben wie: »Sie erreichen mich dienstags zwischen 8.15 Uhr und 8.30 Uhr.« Das soll sich ändern. Die neue Richtlinie verpflichtet zu einer persönlichen Erreichbarkeit von insgesamt 150 Minuten pro Woche, jedoch erst ab einem Versorgungsauftrag ab 20 Therapiestunden pro Woche. »Persönliche Erreichbarkeit« bedeutet jedoch nicht, dass der Therapeut selbst am Telefon ist; Praxispersonal ist ausreichend.

Die vielen Halbtagstherapeuten müssen nur 75 Minuten pro Woche erreichbar sein. Die Zahl der Praxen ohne eine Art Sprechstundenhilfe dürfte dadurch geringer werden; die Mehrheit wird sich diesen Kostenfaktor aber vermutlich nicht leisten. Feste Sprechstundenzeiten sind bisher nicht vorgeschrieben; Termine können flexibel vereinbart werden.

Ein weiteres neues und lang erwartetes Versorgungselement ist die psychotherapeutische Akutbehandlung. Sie dient als zeitnahe Intervention nach der ersten, den Bedarf klärenden Sprechstunde. Patienten in akuten Krisen- und Ausnahmezuständen sollen so rascher Hilfe erhalten, und eine Chronifizierung der psychischen Symptomatik soll vermieden werden. Für die Akutbehandlung stehen insgesamt 600 Minuten zur Verfügung. Sie muss innerhalb von 14 Tagen nach Indikationsstellung begonnen werden. Ab dem 1. Juli dürfen Psychotherapeuten zudem Krankenhaus- und Reha-Einweisungen, Krankentransporte und Soziotherapie verordnen.

Aus Sicht des VPP wurden bei der Ausarbeitung der neuen Richtlinie viele Chancen verpasst. Der Verband spricht zudem von einer Mogelpackung bei der Rezidivprophylaxe. Vollmundig sei da von Maßnahmen zur Stabilisierung der erarbeiteten Fortschritte und Verhinderung von Rückfällen die Rede. Erst bei näherem Hinsehen stelle sich heraus, dass dafür keine zusätzlichen Therapiestunden bewilligt werden, sondern diese Prophylaxe zum bewilligten Gesamtkontingent gehört, so als enthielte Letzteres genug Luft für vorbeugende Maßnahmen.

Die Fehler in der psychotherapeutischen Bedarfsplanung korrigiert die neue Richtlinie nicht. Sie erhöht weder die Zahl zugelassener Psychotherapeuten noch die Zahl der Stunden, in denen diese ihren Patienten tatsächlich zur Verfügung stehen. Im besten Fall steigt der Druck, die Bedarfsplanung endlich in Bezug zu den tatsächlich vorhandenen Krankheiten zu setzen. Stattdessen ist zunächst eine Reduzierung der Praxissitze um fast 4500 geplant, was die Versorgung weiter verschlechtern würde. Nicht nur um das abzuwehren hat das Berliner Forschungsinstitut IGES zusammen mit Frank Jacobi von der Psychologischen Hochschule Berlin ein neues Konzept zur bedarfsgerechten Planung entwickelt. Daraus geht hervor, dass angesichts des Anstiegs diagnostizierter psychischer Erkrankungen ein Drittel mehr Praxissitze nötig sind. Die gibt es nicht umsonst. Die Experten empfehlen bei der künftigen Planung, regionale Schwankungen unbedingt zu berücksichtigen, zeigten Studien doch, dass je nach Region Minder- und Mehrbedarfe von jeweils bis zu 15 Prozent im Vergleich zum bundesweiten Durchschnitt existieren. Frank Jacobi erwartet daher eine fortgesetzte heiße öffentliche Diskussion darüber, »welchen Stellenwert wir der psychischen Gesundheit in Zukunft letztendlich einräumen und wie viel Ressourcen wir als Gesellschaft dafür aufbringen wollen. Rein wissenschaftlich ist diese Frage nicht zu beantworten.«