Manchmal scheint es, als sei es für Kritiker zweitrangig, ob etwas gut oder schlecht ist. Erstrangig: ob sich gut oder schlecht darüber schreiben lässt. Dass es zum Beispiel »mehr Arten des Pianissimo gibt als Adjektive, sie zu benennen« - diese Erkenntnis bildet den Wahrheitsschock des Rezensierens: Du bist als Kritiker die unvollkommene Nachpflege des Kunstwerkes. Joachim Kaiser sagt es in seinen Erinnerungen (»Ich bin der letzte Mohikaner«).
Der ostpreußische Arztsohn, lange Jahre Feuilletonchef der »Süddeutschen Zeitung«, war wahrlich ein Letzter: in der universal bewanderten Art, wie er Musik, Literatur und Theater mit Protokollen eigener Erfahrung begleitete. Sehen, hören, lesen mit feuriger Sachlichkeit. Mit bodenfester Begeisterung. All die prunkende Eitelkeit - ins Dienen investiert. Er war ein Feuilletonist, zu dem Leitartikler regelmäßig kamen, um sich sprachlich zu ertüchtigen - weil er in der Redaktion so frei war, die Notwendigkeit solcher Beratung offen anzusprechen. Sprache war ihm kein Mittel, sondern ein höheres Erlebnis. Er wusste, man findet schreibend nur immer, bestenfalls, das zweitgültige Wort.
Ein Foto zeigt ihn am Klavier, den Bügel der Brille so in den Mundwinkel geklemmt, dass man ihn für eine Zigarette halten könnte. Der hellwach Versunkene. Als verließe einer die Welt, indem er sich mit Klang beschenkt. Von der Gesichtsfurchung, vom Grauhaar geht ein Hauch Karajan aus. Kaiser war beseelt von den großen Pianisten der Zeit. Auf CDs brachte er klassische Musik nahe, vergegenwärtigungskräftig, gleichsam mit inniger Entschiedenheit in der Stimme, durchaus erziehungsbewusst. Aber wenn Erziehung im Wesen Ermutigung bedeutet, so war Kaiser noch im Herrischen einer der großartigsten Lockrufer - der seinem Publikum Lust auf eigene Erfahrungen im Kosmos der Kunst zu wecken vermochte. Dieser Gegenwelt zum »Getümmel des Unreinlichen«. Er besaß grandiose Kontur - ohne zum Standpunktfetischisten zu werden. Er traf seine Urteile, ohne sich weder im Geheimnis noch in der Gewissheit zu verlieren. Trefflich seine Bemerkung, man könne Chopins Terzen-Etüden »eben nicht kommunistisch oder spätkapitalistisch interpretieren [...] man kann sie nicht politisch links oder rechts spielen, sondern nur mit linker oder rechter Hand«. Kunst ist der Raum, wo sich »das vermeintlich Eindeutige zum Unabsehbaren steigert«. Das mählich zu verinnerlichen, »ist das schönste Abenteuer beim Altern«.
Er war beseelter Buchautor. Und ein Reisender wie Alfred Kerr. Begründet hat er seine Freude an Ausfahrten und also Reportagen mit mangelhafter Phantasie: »Sie reicht nicht aus, mir ein Land vorzustellen, ich muss also hin.« Das ist wahr, weil es eine Wesenheit von Journalismus erklärt, und es ist kokett, weil der Autor Joachim Kaiser (wie Kerr) sich unverkennbar in der höheren Etage des Gewerbes eingemietet hatte.
Nun ist der professorale Patriarch und farbglänzende Pfau, 1928 geboren, im Alter von 88 Jahren in München gestorben.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1050850.ein-letzter-seiner-art.html