nd-aktuell.de / 19.05.2017 / Kommentare / Seite 4

Kritischere Wählerinnen und Wähler

Für Steffen Twardowski ist steigende Wahlbeteiligung ein Hinweis auf steigende Ansprüche an Parteien

Steffen Twardowski

Von allen Zahlen, die im Laufe eines Wahlabends präsentiert werden, interessiert mich in letzter Zeit besonders eine: Die Angabe zur Wahlbeteiligung. Selbstverständlich bin ich auch besonders gespannt auf die Werte für die Linkspartei, keine Frage. Aber wie viele der Wahlberechtigten tatsächlich abstimmen, sagt allgemein etwas über das Interesse an Politik aus. Auch bei den jüngsten Landtagswahlen stieg ihre Beteiligung im Vergleich zu den vorigen Wahlen im Jahr 2012 an: Im Saarland von 61,6 auf 69,7 Prozent, in Schleswig-Holstein von 60,1 auf 64,2 Prozent und in Nordrhein-Westfalen kletterte sie von 59,6 auf 65,2 Prozent.

Wird es deshalb einfacher für die Parteien, mit dem Wahlvolk in Kontakt zu kommen? Nicht wirklich. Die Wählerinnen und Wähler zeigen sich kritischer und anspruchsvoller. Sie informieren sich genauer über das, was Politikerinnen und Politiker leisten und geben sich mit einfachen Antworten schon gar nicht zufrieden. Das zeigen Umfragen im Auftrag der Linksfraktion von Anfang Mai. Der Aussage »Die Politiker kümmern sich nicht darum, was einfache Leute denken« stimmen 60 Prozent zu. »Mit Demonstrationen und Protesten kann man die Politik der Bundesregierung beeinflussen«, meinen 48 Prozent. Und für 45 Prozent stimmt es, wenn jemand sagt: »Egal was man wählt, es macht keinen Unterschied für das, was in der Politik passiert.« Im März vergangenen Jahres fielen die Zustimmungswerte jeweils etwas geringer aus. Deutlich gewachsen ist aber die Bereitschaft, auch mit einer kritischen Haltung gegenüber den Politikerinnen und Politikern an der Wahl teilzunehmen. Dieser Umstand befeuert die teilweise sehr starken Wanderungsbewegungen zwischen den Parteien.

Es scheint, als würden Wählerinnen und Wähler schneller die Geduld verlieren, wenn sie sich nicht erst genommen fühlen. Viele von ihnen haben aus den politischen Debatten der vergangenen Jahre gelernt. Das Internet vergisst nichts und wird als Informationsquelle auch für politische und gesellschaftliche Themen immer intensiver genutzt. Wenn also über Erwartungen an eine zukunftsorientierte Politik diskutiert wird und beispielsweise die Sprache auf den Zustand von Schulen, Spielplätzen, Straßen und Schwimmbäder kommt, zeigen sich manche in der Runde plötzlich sehr ernüchtert: »Für die Bankenrettung war ganz schnell ganz viel Geld da« ist dann oft zu hören. »Aber für Bildung und Kinderbetreuung oder eine bessere Rente gibt es nichts.« Mich überrascht es nicht, wie viele Menschen sich noch sehr genau an Bundestagsdebatten über verschiedene Rettungspakete erinnern. Dabei ist ihnen anzusehen, wie sehr sie sich übergangen und alleingelassen fühlten. Damals, im Frühjahr 2010, meinten sogar 74 Prozent, die Politiker würden sich nicht um die Meinung der einfachen Leute kümmern. Damals fragten sich viele von ihnen, ob sie es mit hoher Leistung noch schaffen, sich den Platz in der Gesellschaft zu sichern, den sie anstreben.

Es geht also um Glaubwürdigkeit und Konsequenz. Wählerinnen und Wähler sehen sehr genau hin, wenn jetzt Parteien ihre Programme für die Bundestagswahl vorstellen. »Warum haben sie das nicht schon gemacht?«, fragen sie oft, wenn eine bereits regierende Partei etwas vorschlägt, was sie von ihr schon lange erwarten. Beispiel Armut: Dass sie bekämpft werden muss, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Daher geht es also gar nicht um das Ob, sondern um das Wie. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes beschreibt die Erwartungen in seinem Buch »Kein Wohlstand für alle!?« so: »Ohne eine solidarische Steuerpolitik bleibt Armutsbekämpfung zu großen Teilen lediglich auf dem Niveau von gut gemeinten und nett anzuschauenden Luftnummern. Wer diese Gesellschaft zusammenhalten will, wer Armut bekämpfen will, wer den Mittelstand wieder am Wohlstand in Deutschland teilhaben lassen will, wer letztlich das ewige Versprechen eines Wohlstands für alle einlösen will, der darf auch keine Angst davor haben, sich der Verteilungsfrage zu stellen und sie klipp und klar zu beantworten.«

Kritische Wählerinnen und Wähler finden sehr schnell die Knackpunkte in Partei- und Wahlprogrammen. Deshalb ist die steigende Wahlbeteiligung vor allem ein Hinweis auf ihre steigenden Ansprüche an die Parteien, die ihre Stimme wollen.