Ich bin auf Knien rutschend ins Leben zurückgekehrt

Wie mich die Arbeit im Garten ins Leben zurückholte.

  • Sabine Krenz
  • Lesedauer: 3 Min.

Am 15. Oktober 2013 wurde ich das neunte Mal wegen einer Tumorerkrankung operiert. Es war eine große und komplizierte OP im linken Gesichtsbereich mit Hautverpflanzung aus der linken Brust. Als ich aus der Narkose erwachte, wunderte ich mich über eine Überempfindlichkeit im linken Oberarm- und Schulterbereich. Als ich das erste Mal in den Spiegel schaute, war ich über mein Aussehen entsetzt. So hatte ich mir das alles nicht vorgestellt.

Weil mir die Kräfte versagten, fiel ich seelisch in ein tiefes Loch. Nach dem Klinikaufenthalt fuhr ich zwei Mal die Woche zur Lymphdrainage. Meine Physiotherapeutin, die mich seit 1992 behandelte, klärte mich auf. Meine Probleme mit dem Oberarm und der Schulter entstanden durch die Entnahme von größeren Gewebemengen, um den Hals und die linke Gesichtshälfte aufzufüllen. »Oberarm und Schulter werden bis zu ihrem Tod krank bleiben. Wir können nur die Schmerzen lindern. Sie müssen sich schonen.«

Aufmerksam und entsetzt lausche ich ihren Worten. Warum hat kein Arzt mit mir darüber gesprochen? Es ist Februar. Die Sonne scheint täglich durch unser Fenster. Seit Mitte Oktober liege ich nur noch im Bett oder auf der Couch. In unserem Garten, 835 Quadratmeter groß, blühen die ersten Schneeglöckchen, Winterlinge, Krokusse und der Winterjasmin.

Wie sagte unsere Oma immer: »Mitte Februar wärmt die Sonne unser Gesicht.« Ich - eine leidenschaftlicher Gärtnerin von Kindheit an - muss in den Garten. Die Natur erwacht aus dem Winterschlaf - das ist der Frühling. Ich kenne mich damit aus.

Vorsichtig spreche ich die Physiotherapeutin an, dass ich in den Garten und arbeiten will. Sie kann es nicht fassen. »Das ist zu früh. Ihnen fehlt noch die Kraft dazu. Höchstens eine Stunde, auf keinen Fall länger.« Ich verspreche es ihr.

Gleich am nächsten Tag starte ich mein Vorhaben. Nach dem Mittagessen ziehe ich mich warm an. Drei Pullover, eine dicke Strickjacke, eine warme Weste, Kopftuch, Winterschal um den Hals, Trainingshose, Leggins, dicke Socken und Handschuhe sind meine Gartenkleidung. Ein altes Messer, Gartenschere und ein Eimer sind mein Werkzeug.

Lautes Vogelgezwitscher empfängt mich, als ich in den Garten komme. Die Vögel sitzen in dem Brombeergestrüpp hinter unserem Gartenzaun und warten, dass wir sie füttern. Die frische Luft, die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht - ich bin glücklich. Kniend bewege ich mich von Blumenbeet zu Blumenbeet. Ich entferne das vertrocknete Laub von den Blumenstauden und erfreue mich am neuen zarten Grün der Natur. Unser Sohn und Schwiegertochter lockern vorsichtig die Erde der Beete auf und harken die Wege. Jeden dritten Tag erhöhe ich meine Arbeitszeit im Garten um eine viertel Stunde. Das fällt mir nicht schwer. Doch wenn ich nach getaner Arbeit den völlig durchgeschwitzten Körper wasche, hilft mir mein Mann.

So vergehen die Frühlingswochen. Voller Stolz auf unsere Arbeit kann ich am 1. Mai sagen: »Mein Garten ist fertig.« Die Physiotherapeutin ist fassungslos. Ich spüre, ich bin ins Leben zurückgekehrt.

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