Weg ohne Ziel

Dave Eggers erzählt in seinem jüngsten Roman von einer Frau, die »bis an die Grenze« geht

  • Lilian-Astrid Geese
  • Lesedauer: 3 Min.

Dave Eggers ist ein umtriebiger, engagierter Mann. Vielleicht, weil sein eigener Lebensweg von Schicksalsschlägen und Herausforderungen geprägt war. Sein Journalismusstudium brach er nach dem Tod der Eltern mit 21 Jahren ab, um sich um seinen kleinen Bruder zu kümmern. In seinem Debüt »Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität« aus dem Jahr 2000 erzählt er davon. Seitdem verfasste er mehrere Romane, Kurzgeschichten, Essays und Comics, gründete einen Verlag, gibt mehrere Zeitschriften heraus, baute eine gemeinnützige Schreibschule für Kinder und Jugendliche auf und leitet ein Projekt zur Förderung von Studierenden, die ihre Universitätsausbildung nicht selbst finanzieren können. 2013 erschien die ironische Auseinandersetzung mit der modernen Leistungsgesellschaft »Ein Hologramm für den König«, 2014 »Der Circle«, eine treffende Abrechnung mit der Internet-Gesellschaft im Silicon Valley.

Sein jüngster, weitaus weniger witziger und streckenweise fast anstrengender Roman heißt »Bis an die Grenze« und ist nichts für Leser, die Handlung und Spannung lieben. Doch es ist ein Buch, das nachdenklich macht, wenn man bereit ist, sich der Auseinandersetzung mit eigenen Ängsten und Unsicherheiten zu stellen. Die Protagonistin Josie war Zahnärztin in Ohio, bis sie ihre Praxis mehr oder weniger gezwungenermaßen aufgab. Sie tauschte sie quasi ein gegen die Schadensersatzansprüche, die eine frühere Patientin wegen eines angeblichen ärztlichen Fehlers geltend macht. Nach einer gescheiterten Beziehung mit einem oberflächlichen, nervenden und verantwortungslosen Mann, der - aus Prinzip - nie heiraten wollte, jedenfalls nicht Josie, fällt sie mit ihren Kindern Paul (acht) und Ana (vier Jahre alt) in ein emotionales Loch.

Je mehr sie über ihr offenbar verkorkstes Leben nachdenkt, desto deprimierender erscheint ihr dieses Leben. Fehlentscheidungen, Fehlurteile, die Trägheit, sich aus ausweglosen Situationen herauszukämpfen, werden zu wahrhaftigen Monstern, die nur eine Schlussfolgerung zulassen: Flucht. Also macht sich die Vierzigjährige auf nach Alaska. Dem Kindsvater - mittlerweile in Florida ansässig und mit einer anderen Frau verheiratet - sagt sie nichts.

Vielleicht kann Alaska, am Ende der Welt, ein neuer Anfang sein? Oder auch ein dramatisches Ende? Josie weiß es nicht, will es auch nicht wissen. Den Besuch bei ihrer »Schwester« Sam, die sich mit ihren zauberhaften Zwillingstöchtern dort niedergelassen hat und ihr Geld damit verdient, Touristen durch die malerische Natur zu führen, bricht Josie nach nur drei Tagen ab. Vielleicht, weil sie bemerkt, dass auch diese Beziehung eher von Eifersucht und Unverständnis geprägt war als von Gemeinsamkeit.

Josie erzählt, reflektiert, erinnert sich, hofft, lässt sich treiben. In einem alten Camper zieht sie mit den Kindern durch ein Land, das ihres und doch nicht ihres ist. Hat sie ein Ziel? Sucht sie? Will sie ankommen oder gehen? Ist sie eine verantwortungsvoller Mensch, eine verantwortungsvolle Mutter? Die Kinder wollen zur Schule. Sie ignoriert es. Ana, das ungebändigte Mädchen, ist die Verkörperung der Ungebundenheit, die Josie liebt. Paul steht für die Ordnung und Ausgeglichenheit, ohne die kein Leben möglich ist und die Josie vielleicht nie erreichen wird. Josie trinkt. Das macht sie nicht sympathischer. Gleichwohl versucht man, ihr Dilemma zu verstehen.

»Bis an die Grenze« ist ein Versprechen auf etwas, das es vermutlich nicht gibt. Ein Roman ohne Lösung, ein Weg ohne Ziel. »Bis an die Grenze« ist Anregung zur Reflexion. Für die Geduldigeren unter uns, die bereit sind, sich Josies Gedankengrübeleien und Erinnerungen hinzugeben.

Dave Eggers: Bis an die Grenze. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch. 479 S., geb., 23 €.

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