nd-aktuell.de / 23.05.2017 / Kommentare

Wider die unbegrenzte Akkumulation

Zum Geburtstag des Grundgesetzes: über ungezügelte Ungleichheit und die kapitalistischen Gefahren für die Freiheit

Tom Strohschneider

Wenn kein runder Jahrestag ansteht, fährt die politische Erinnerungsmaschine im Sparmodus. Das heißt: Sie läuft fast gar nicht, und das ist schade. Gerade an einem 23. Mai, dem Tag, an dem 1949 das Grundgesetz erlassen wurde. Eine Verfassung, die viel auszuhalten hatte seither: Sie wurde umgedeutet, verändert, ausgehöhlt. Umso wichtiger ist es, auch abseits runder Jahrestage daran zu erinnern, dass es sie gibt. Und vor allem: Was in ihr an Möglichkeiten begründet ist.

Weil dieser Tage oft und viel von sozialer Gerechtigkeit die Rede ist, auch wenn die, die so sprechen, nicht immer genau sagen können, was sie damit meinen und woraus sie ein solches Ziel ableiten, mehr noch: nicht sagen können, wie man die dazu nötigen politischen Instrumente in Stellung bringen kann und welche das sein könnten, soll deshalb an diesem 23. Mai an einige Gedanken von Ernst-Wolfgang Böckenförde erinnert werden.

Der Verfassungsrichter hatte sich zum Karlsruhe Beschluss vom Juni 1995, der zur Aussetzung der Vermögensteuer führte, eine abweichende Meinung erlaubt. Wobei es dem 1930 geborenen Böckenförde gar nicht darum ging, dem Haupttenor des Urteils zu widersprechen. Es ging ihm darum, zu widersprechen, »dass eine Vermögensteuer unter den Bedingungen des gegenwärtigen Steuerrechts von Verfassungs wegen nur als Sollertragsteuer verstanden und ausgestaltet werden« könne, mithin um eine seiner Meinung nach unbegründete und der Verfassung nicht entsprechende »Begrenzung der Vermögensteuer auf eine Besteuerung der (Soll-)Erträge«.

Das alles klingt für den nichtjuristischen Laien furchtbar kompliziert, und es soll auch darum eigentlich nicht gehen. Sondern um das Grundgesetz, und mit Blick darauf hat Böckenförde in seiner abweichenden Meinung Sätze formuliert, die zum Jahrestag der Verfassung zitiert werden sollen, um diese zu ehren.

Böckenförde ging es um die Verteidigung des sozialen Rechtsstaats, um »das staatliche Potential sozialer Korrekturmöglichkeiten gegenüber der Selbstläufigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen«. Die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik beruht für ihn »auf der für den modernen Staat selbstverständlichen Annahme der rechtlichen Freiheit und Gleichheit aller Bürger. Mit dieser durch die Verfassung gewährleisteten Grundlegung des Gemeinwesens in der Freiheit und Besonderheit des Einzelnen werden gesellschaftliche Ordnungsbildung und Entwicklung weitgehend dem freien Spiel der Konkurrenz und sich hierbei bildender Unterscheidungen überlassen.«

Soweit so kompatibel mit der Aneignung fremder Arbeit, mit der Konkurrenz, mit dem Eigentum, mit all dem und den Konsequenzen daraus, die Böckenförde, keineswegs ein Linker, später einmal in einem Text als »inhumanen Charakter« des Kapitalismus beschrieben hat, die Forderung aufstellend, die katholische Soziallehre möge doch wieder aufleben.

Man kann die abweichende Meinung des Juristen aber auch von noch etwas weiter links lesen, und das gerade an einem 23. Mai – erst als Analyse: »Die rechtliche Gleichheit verbunden mit der individuellen Handlungs- und Erwerbsfreiheit und der Garantie des Eigentums entbindet eine weitreichende Dynamik und führt unweigerlich zur Entstehung materieller Ungleichheit unter den Bürgern.« Und weiter als Auftrag: »Im Eigentum gerinnt die Ungleichheit der freigesetzten Gesellschaft zur Materie und wird Ausgangspunkt neuer Ungleichheiten. Stellt man dieses unter Sicherung von dessen unbegrenzter Akkumulation sakrosankt, besteht die Gefahr, daß sich die Ungleichheit ungezügelt potenzieren kann und sich darüber die freiheitliche Rechtsordnung selbst aufhebt.«

Unbelastete Erbschaften? Extraprofite? Riesenvermögen? Und zugleich Armut trotz Arbeit, Kinder ohne gleiche Chancen, Aushöhlung des Öffentlichen? Wer das nicht dem Selbstlauf, irgendeinem angeblichen Leistungsgedanken oder falsch verstandener Meriten und also sich selbst überlassen möchte, darf über die möglichen Hebel, die dagegen eingesetzt werden könnten, als Steuern, als Gesetze, als Maßnahmen auf dem Fundament der 1949 geborenen Verfassung, nicht nur reden. Er muss sie auch einsetzen.