nd-aktuell.de / 26.05.2017 / Brandenburg / Seite 10

Arbeitslager an Hitlers Autobahn

Zwangsarbeit an der Strecke von Frankfurt (Oder) ins damalige Posen erforscht

Henry-Martin Klemt

Die Haare. Sie wehten manchmal durch das Dorf. Noch jahrelang, erinnert sich ein Bewohner. Die Haare, die den Häftlingen nach ihrer Ankunft abgeschoren wurden. Die Menschen, sie waren lange schon fort. Weiter verschleppt, umgebracht oder heimgekehrt. Vielleicht. Ihre Haare aber blieben hier, wo eines der mindestens 37 Lager stand. Die Lager: Aufgereiht wie schwarze Perlen auf einer Schnur entlang der Autobahntrasse von Frankfurt (Oder) nach Posen, dem heutigen Poznań. Unweit von zumeist kleinen Ortschaften. Wer danach sucht, stößt auf karge Spuren, in einem Wald oder auf einem Feld.

Matthias Diefenbach vom Institut für angewandte Geschichte der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) ist diesen Spuren mehr als zwei Jahre lang gefolgt. Gemeinsam mit zwei weiteren Historikern, unterstützt vom Muzeum Martyrologiczne w Zabikowie und dessen Leiter Jacek Nawrocik, von einem halben Dutzend Regionalhistorikern vor Ort, sowie von den Journalisten Martin Adam und Rafael Jung aus Berlin, trat er eine Reise durch die Geschichte an, durchstöberte Archive, besuchte er Orte, sprach mit Menschen, darunter auch einigen der wenigen Zeitzeugen. Eine Arbeit gegen das Vergessen und für ein kollektives Gedächtnis, eine erinnerungsfähige Gesellschaft. An einigen Orten stieß Diefenbach auf kleine Initiativen, die sich der Vergangenheit widmen. Mancherorts sind Legenden an die Stelle von Fakten getreten.

Die 37 sogenannten Arbeits- und Erziehungs-, aber auch Polizeilager entstanden ab 1941 für den Bau der Reichsautobahn von Frankfurt (Oder) nach Posen, ein Abschnitt, der nicht realisiert wurde, als der Zweite Weltkrieg nicht nach dem Wunsch derer verlief, die ihn vom Zaun gebrochen hatten. 1942 wurde das Vorhaben auf Friedenszeiten vertagt.

Diefenbach war darauf aufmerksam geworden, als er sich mit dem Lager in Schwetig (Swiecko) befasste und plötzlich feststellte, dass es zu einem ganzen Komplex, einer richtigen Lagerwelt gehörte. Getragen wurde sie nicht nur vom militärischen und paramilitärischen Machtapparat der Nazis, sondern auch von Arbeitsämtern, der Polizei und vielen, die freiwillig oder gezwungenermaßen zum System der Ausbeutung und Vernichtung gehörten. Die insgesamt rund 10 000 Menschen, die in den Lagern zusammengepfercht waren: polnische Juden, polnische und sowjetische Kriegsgefangene, Menschen, die eines Vergehens bezichtigt oder gar der Konspiration verdächtigt wurden. Darunter auch Kinder ab 14, später ab zwölf Jahren. Die Gefangenen rodeten Wald, bewegten Erdmassen, schufteten für die Direktion der Reichsautobahn und für viele kleine Unternehmen, die den Zuschlag für eines der Ausschreibungslose erhalten hatten und auch die Wachmannschaften auf den Baustellen unterhielten.

Heute lässt sich die Geschichte der Zwangsarbeit vor Ort anhand eines zweisprachigen Audioguides erfahren. Die Gedenk- und Dokumentationsstätte Opfer politischer Gewaltherrschaft in Frankfurt (Oder) wollte zunächst einen Reiseführer erstellen. Die Idee wurde dann verworfen zugunsten eines Hörbuchs, das den Rezipienten in seiner Gegenwart abholt und ihn mit einer zunächst unscheinbaren Geschichte konfrontiert, die Stück für Stück die Gräuel faschistischer Gewaltherrschaft offenbart. Die Politik der Vernichtung durch Arbeit. Der Terror, mit dem Angst verbreitet wurde.

Aus dem Abstrakten treten Geschichten hervor. Fünf Juden, die ein paar Kartoffeln genommen hatten und etwas Brot, nach denen gefahndet wurde, bis man sie fand und henkte. Der 13-Jährige, der die Toten im Nachbarort verscharren musste.

So legt das einstündige Hörbuch Spuren frei und verweist zugleich auf einen dokumentarischen Band, der demnächst erscheinen soll und der die Geschichten auslotet, Hintergrundinformationen und Kontext liefert. »Es wird die Lager auffindbar machen für Interessenten«, sagt Diefenbach. »Wichtig ist die Authentizität der Orte zusammen mit ihrer Geschichte. Das kann auch für Schüler, überhaupt für Nachgeborene sehr lehrreich sein.«

Die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft sowie die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit förderten das Forschungsprojekt »Zwangsarbeit zwischen Frankfurt (Oder) und Poznań. Die Arbeitslager entlang der Reichsautobahnbaustelle 1940-1945 für Juden, sowjetische Kriegsgefangene, Polizeihäftlinge und andere Zwangsarbeiter«. Das besondere an diesem Projekt ist die Multiperspektive, die das Geschehen nicht auf ein Opfer-Täter-Raster reduziert, es aber auch nicht ausblendet. Es ist die Historie von Deutschen und Polen, Russen und Juden, von Provinzen und Metropolen, von Beteiligten und Unbeteiligten.

»Als der Bau des Autobahnabschnittes 1942 gestoppt wurde, bestanden viele der Arbeitslager trotzdem weiter, manche bis nach 1945«, berichtet Matthias Diefenbach. Jedes Lager habe eine eigene Geschichte. Sie hatten aber auch Gemeinsamkeiten. »Jedes verfügte über Unterkünfte, Küche, Appellplatz und Galgen.« Die Todesrate sei enorm gewesen. Der Mangel an Lebensmitteln führte zu einem allmählichen Verhungern. Ermordungen und die Opfer von Todesmärschen bei der Schließung von Lagern kamen hinzu.

Jacek Nawrocik verweist darauf, dass der »Warthegau«, wie die Nazis das Territorium um das damalige Posen nannten, als »Mustergau« des Dritten Reiches galt. Hier wurde an Polen der Umgang mit den slawischen »Untermenschen« im künftigen Reich erprobt. Für die Betroffenen bedeutete das noch mehr Terror, noch drakonischere Strafen für noch geringere Vergehen. In wenigen Jahren sollte das Gebiet vollkommen germanisiert werden, doch es waren ausgerechnet die Deutschen, an denen der Plan scheiterte. Sie zog es trotz Versprechungen und Vergünstigungen eher nach Südwesten, als nach Osten.

Nach dem Krieg, als sich die DDR und die Volksrepublik Polen um gutnachbarschaftliche Beziehungen bemühten und die Oder-Neiße-Friedensgrenze besiegelten, entstand auch eine neue Oderbrücke. Dabei stießen Bauarbeiter, so ist es überliefert, auf menschliche Überreste. Sie wurden angewiesen, den Fund wieder zuzuschütten und nicht darüber zu sprechen. Diefenbach: »Daran haben sie sich bis zur Wende gehalten. Es sollte kein Schatten auf die Zukunft fallen, und jetzt werfen wir Schlaglichter auf die Geschichte.«