nd-aktuell.de / 30.05.2017 / Kultur / Seite 16

Feingefühl und fliegende Knöpfe

In Gregor Gysis Gesprächsreihe am Deutschen Theater: Sänger Thomas Quasthoff

Hans-Dieter Schütt

Diese Armut, wenn eine Musik aufhört. Schrieb Martin Walser. Sänger Thomas Quasthoff sitzt im Sessel auf der Bühne des Deutschen Theaters Berlin und hört - sich selber zu. Vom Band Brahms, dann Jazz. Er schließt die Augen, wiegt - wahrlich taktvoll - den Kopf. Glück aus der Konserve. Er lächelt in den Beifall hinein.

Quasthoff war am Sonntag zu Gast in Gregor Gysis Gesprächsreihe. Ein Weltstar. Sänger bei großen Dirigenten in großen Sälen. Musikprofessor in Berlin. Begegnung mit einem Entertainer. Er erzählt von Lernjahren in der Sparkasse, da er den blutverschmierten, im Gesicht rosafarbenen Fleischer vom Geschäft um die Ecke, als der um Kontoauszüge bat, kurz und knapp fragte: »In Scheiben oder im Stück?« Der Künstler, ein Contergan-Geschädigter, erzählt von Menschen mit »dem Feingefühl eines Heizungsrohres«, etwa jener Frau, die ihm im Zugabteil gegenübersaß, seine Heiterkeit bemerkte, an ihm herabsah und sagte: »Ich verstehe nicht, wie Sie überhaupt noch lachen können.« Jemandem, der dem Kleinwüchsigen »eine auf die Fresse« geben wollte, entgegnete er: »Aber gut bücken, sonst triffst du nicht!«

Ein schlagfertiger Souveränitätsriese, der mit seiner Stimme spielt, weltläufig ist, mit Witzen flankt. Als er in einer Kirche Mendelssohn sang, knallten dem Dirigenten einige Knöpfe weg, »sie flogen in den hinteren Bereich der Bläser«, die Frackhose rutschte gnadenlos herab, und just im enthüllenden Moment tönte Quasthoffs Stimme: »Gott sei mir gnädig!« Ein Anekdoten-Artist, der sich selbst quickfröhlich eine »Rampensau« nennt. Auf eine verblüffende Art parodiert er Erich Honecker, verwandelt unter Beifall Matthias Claudius› Gedicht »Der Mond ist aufgegangen« stimmecht in eine Helmut-Kohl-Rede.

Er kann das: reden. Er redet gern. Er hat etwas zu sagen. Dass er stets um Anerkennung und Erfolg »kämpfen« musste, hört er weniger gern. Es geht um sprachliche Genauigkeit. »Rosa Luxemburg, das war eine Kämpferin.« Sagt‹s, und mir geht durch den Kopf, wie schnell manchen Jungen heute der Adelstitel über die Zunge hüpft: Man sei »Antifaschist«. Quasthoff nennt es sein Glück, als Opfer des Arzneimittelskandals »nicht überbehütet« aufgewachsen und beizeiten mit »gesundem Selbstbewusstsein« gesegnet gewesen zu sein. Anderthalb Jahre lag er als Kleinstkind im Streckverband, Zentimeter für Zentimeter wurden ihm die Füße gerichtet; später war er im Internat, »zunächst im Zehner-Zimmer mit geistig Behinderten, die nachts schrien«.

Natürlich weiß er, dass seine künstlerische Gabe ihn auf besondere Weise rettete. »Das Positive einer bitteren Erfahrung liegt darin, dass man fortan weit eher dazu bereit ist, jeden Morgen nach dem Aufwachen kurz ›Danke!‹ zu sagen.« Worte, in denen ungesagt die Hoffnung auf das offenkundig Unerfüllbare in unserem Gattungswesen mitschwingt: Zufriedenheit könnte entstehen, ohne dass der Mensch erst leidet; Demut könnte obsiegen, ohne dass erst entbehrt werden muss; der Reichtum der Bescheidung könnte begriffen werden ohne den Preis schwerer Verluste.

Geboren werden in Hildesheim. So fängt, 1959, ein Schicksal schon mal an. »Nein, Provinz hat einen Vorteil: Du bist besser geschützt vor dem Verruchten.« Vater Quasthoff ist Amtsinspektor, hat aber Gesang studiert, »für die Karriere fehlte ihm jedoch das Nervenkostüm«. Vielleicht sind das die Traurigsten: die verhinderten Künstler. Als Sohn Thomas, inzwischen Sprecher beim NDR, 1988 den internationalen, renommierten ARD-Sänger-Wettbewerb gewinnt, ist der Vater dabei, bei der Verkündung fällt ihm vor Schreck die Tabakspfeife aus dem Mund. Vorausgegangen war dieser Laufbahn eine Ablehnung an der Musikhochschule (er würde nie Klavier spielen können) und also ein jahrelanger Privatunterricht (»meine Lehrerin wohnte im fünften Stock - und kein Fahrstuhl«).

Im Funkhaus Hannover fiel gegenüber den Eltern - die ihren Sohn nie mit Ehrgeiz bedrängten - der Satz: »Ihr Sohn liebt nicht die Musik, er ist Musik.« Quasthoff spricht von der Suggestivkraft des Auftritts. Schumanns Lied von der Krähe in der »Winterreise« habe er so gesungen, dass die Zuhörer nicht ihn anschauten, sondern nach oben blickten, als suchten sie den Vogel am Himmel. Das Hören und das Sehen als Paarung zweier Sinne. Überhaupt Schumann und Schubert: »Beide haben nie die Erde berührt.«

Dem agilen Künstler missfällt die Müdigkeit der demokratischen Öffentlichkeit. Zu wenig Protestenergie - gegen »Idioten in der Regierung«, die Waffengeschäfte mit Saudi-Arabien betreiben. Er ärgert sich noch immer, »wie der Westen nach der Wende über den Osten rollte«, er schüttelt den Kopf über die SPD und meint, zu wenige Arbeiter seien im Bundestag. Und immer weniger werde in Kindergärten und an Schulen für die musische Bildung getan - »das ist fatal, in so einem reichen Land wie dem unseren«. Er redet sich zornig über eine gesellschaftliche Lage, in der es offensichtlich genügt, dass junge Menschen nur jene Kompetenzen erwerben, die sie fit für die Arbeitswelt machen. Überall bloß Effizienzrausch. Das heißt: Sollte es sich herausstellen, dass das Hören von Musik bei der Gründung von Start-ups Vorteile verschafft, nun, dann wird man das Musikhören wohl eiligst fördern; sonst eben nicht. Und das könnte verheerend sein. »Bildung ohne ästhetische Erziehung ist keine Bildung. Die Kunst, und nur sie, kann - im Imaginären - zeigen, was es heißt, mit unseren Widersprüchen und Abgründen in einer menschlichen Weise umzugehen.« Jetzt schreitet Gysi ein: »Sie können doch hier nicht eine Rede von mir halten!« Quasthoff lacht: »Doch! Und ich würde Sie sogar wählen, aber da ist leider noch das andere Personal Ihrer Partei ...«

Zwei Stunden perlende, intelligente Auskunft. Über Regen, der auf ein Festzelt fällt wie ein schöner Dauerapplaus. Über Simon Rattle und dessen Ratschlag: »Thomas, ärgere dich nie über Dinge, die du nicht ändern kannst.« Über das Schreiben von Autobiographien: »Man hat leider alles falsch in Erinnerung.« Über die Neidfreiheit vieler US-Amerikaner (im Gegensatz zu uns Deutschen). Über den Satz der Sängerin Hilde Zadek: »Ich möchte ein anständiger Mensch werden« - diese Aufgabe, nie zu Ende; sie sagte es, da war sie 85! Über die elende Macht der Pharmaindustrie - jene Firma Grünenthal, deren Geschichte eng mit dem Contergan-Skandal verfilzt ist, hat Quasthoff vor nicht allzu langer Zeit mit verblüffender Frechheit gefragt, ob er nicht ein Benefizkonzert geben könne.

Der Sänger war dabei, als vor Jahren in Israel erstmalig die lange abgewehrte »Matthäuspassion« aufgeführt wurde. Ein Holocaust-Überlebender sei nach dem Konzert zu Quasthoff gekommen. »Er sagte, er habe sich überwinden müssen, aber entdeckt, wie schön die deutsche Sprache sei. Wenige Wochen später sang ich in München - und dieser Mann war gekommen. Wo er sich doch geschworen hatte, nie wieder nach Deutschland zu fahren. Das hat mich erschüttert.« Gysi resümiert: »Man sollte mehr Musiker in die Welt schicken, weniger Politiker.«

Wir wollen nicht wehrlos das aushalten, was in der Welt den Ton angibt. Deshalb gibt es die Musik. Deshalb gibt es Sänger, die als einziges Wesen offenbaren können, was das ist: ein Mensch, der seine Stimme wahrlich - erhebt. Standing ovations für Thomas Quasthoff.