nd-aktuell.de / 30.05.2017 / Kultur / Seite 15

Die Geister der Vergangenheit in Karlsruhe

Eine Ausstellung zeigt Nanni Balestrinis politische Experimente visueller Poesie

Julian Volz

Unzertrennlich verbunden schlingen sich Wörter und Sätze ineinander, mal größer, mal kleiner geschrieben, mal mit Serifen, mal ohne. Spektakuläre Überschriften wie »Cassez-tout« (Zerschlagt alles) und »La France éclate« (Frankreich explodiert) tauchen neben den Namen von Orten auf, die mit dem Mythos der Rebellion verbunden sind: »A la Sorbonne«, »Nanterre«. Zu den Schlagzeilen über die unerbittlichen Straßenkämpfe und Fakultätsbesetzungen des Pariser Mai 1968 kommen, in kleinerer Schrift, dafür aber öfter wiederkehrend, Schlagworte aus dem in der bürgerlichen Gesellschaft halböffentlichen Bereich der Ökonomie. Die unterschiedlichsten Branchen, die sich in jenem Mai 1968 im Streik befanden, geraten ins Blickfeld sowie die dortigen Formen der Auseinandersetzung und der Wiedereingliederung in das Bestehende: »pas d›accord Métallurgie« (keine Einigung Metallindustrie), »gréve poursuivie Enseignants« (fortgesetzer Streik Lehrer), »Banques reprise« (Banken Wiederaufnahme der Arbeit). Über das ganze, zu einem ineinandergeflossenen Sprachknäuel geronnene Bild verteilt, liest man in Großbuchstaben den Titel des Werks, den man auch so hätte erahnen können: »REVOLUTION DE MAI«.

»Cronogrammi« nannte der italienische Schriftsteller und Künstler Nanni Balestrini seine Version der visuellen Poesie. Mit dem beschriebenen Werk, für das er Überschriften aus Zeitungen de- und rekomponierte, vermag er auch fast fünfzig Jahre später noch die Dynamik der Ereignisse jenes Mai ‹68 in ihrer unfassbaren Dichte und Schnelligkeit nachvollziehbar zu machen. Mit Hilfe formalistischer Verfahren bricht Balestrini die herrschenden Diskurse über die Ereignisse auf. Frankreich stand damals kurz vor einer Übernahme der Macht durch Arbeiterinnenräte.

Zu sehen ist dieses Chronogramm in der von Margit Rosen kuratierten Ausstellung »Nanni Balestrini: Wer das hir liest braucht sich vor nichts mehr zu fürchten« im »Zentrum für Kunst und Medien« (ZKM) in Karlsruhe. Die Schau gehört zu der sechsteiligen Ausstellungsserie »Poetische Expansionen«, die den Beitrag von Literaten und Poeten an der Erweiterung der Künste im 20. Jahrhundert auf neue Materialien und technische Medien aufzeigen will.

Der in der deutschen Linken besonders für seine Romane über die historische Sequenz zwischen 1969 und 1977 beliebte Nanni Balestrini eignet sich für ein solches Vorhaben hervorragend. Die Ausstellung macht deutlich, dass es viel zu kurz gegriffen wäre, den 1935 in Mailand geborenen Balestrini nur als militanten Schriftsteller zur Kenntnis zu nehmen. Sie erschließt die hierzulande bisher kaum erfolgte Rezeption seines Schaffens in der bildenden Kunst. Balestrinis Collagen und Experimente mit visueller Poesie scheinen eine Fortsetzung seiner auch in der Literatur angewandten Montagen mit anderen Mitteln zu sein.

Die von Balestrini sowohl in seinen Romanen als auch in den in der Ausstellung gezeigten Werken verwendeten künstlerischen Verfahren der Montage, Collage und Assemblage und die dadurch erzeugte Repetitivität und Apersonalität schließen ohne Zweifel an die Formexperimente der historischen Avantgarden im Vorkriegseuropa an. Besonders die Dadaisten nutzten diese Verfahren bei ihrem Versuch, neue Seh- und Hörgewohnheiten durch eine Neukonfiguration der Trümmer der bürgerlichen Gesellschaft zu schaffen.

Auch wenn Dada sich (abgesehen von Dada Berlin unter Heartfield und Grosz) nicht in den Dienst einer politischen Bewegung stellen wollte, so ist ihr Projekt einer ästhetischen Avantgarde ohne das Vorhandensein einer breiten politischen Avantgarde in dieser Zeit undenkbar. Denn erst eine Bewegung, die auch gesellschaftlich etwas Neues schaffen will, bildet den materiellen Resonanzraum für eine neue Art der Wahrnehmung der Welt. Ähnlich verhält es sich mit der »Neoavanguardia«, die sich in Italien ab den späten 1950er Jahren entwickelt: Erst die aufflammenden Kämpfe der Massenarbeiter ab den frühen 1960er Jahren ermöglichten dem avantgardistischen Projekt eine gesellschaftliche Kontextualisierung.

Durch ihren chronologischen Aufbau veranschaulicht die Retrospektive, die eine Werkperiode von 1960 bis 2017 umfasst, dass Balestrinis Kunst am besten funktioniert, solange sie in eine politische Bewegung eingebunden ist oder zumindest die Kämpfe im Italien der 70er Jahre thematisiert. So schafft es etwa die Werkgruppe »Kaiser Nr. 1 - 12« aus der Serie »Plis« von 1989 durch Kombination, Falttechnik und Manipulation, den Aufschriften und Bildern der Plastiktüten der gleichnamigen Supermarktkette einen ästhetischen Effekt abzugewinnen. Sicherlich können die »Plis« auch als Warnung vor den ökologischen Folgen von übermäßigem Einkaufstütenkonsum gelesen werden. Sie wirken aber dennoch irgendwie harmlos und abgestanden.

Dies gilt erst recht für die meist aus Schlagzeilen der Bild-Zeitung zusammengesetzten deutschsprachigen Collagen »Geheimpapiere« von 2014, die recht lieblos die Bild- und Sprachwelten der Boulevardpresse aufs Korn nehmen. Die Collagen »Vivere a Milano« aus dem vergangenen Jahr, die auf einer Serie von stilbildenden Fotos aus der Hochzeit der »Autonomia« basieren und mit Flecken aus schwarzem Acryl und Wörtern wie »Emarginati« (Randgruppe), »Sassata« (Steinwurf) oder »Fantasmi« (Gespenster) arbeiten, beschwören hingegen noch einmal den Mythos der damaligen Zeit herauf und zeigen auf, dass die Geister der Vergangenheit inzwischen zwar verblichen sind, aber dennoch auch heute fortleben. Wer die Bilder des »Schwarzen Blocks« der No-Expo-Proteste vom 1. Mai 2015 in Mailand kennt, weiß, dass diese von denen der 70er Jahre dann doch wieder nicht so gravierend abweichen.

»Nanni Balestrini: Wer das hir liest braucht sich vor nichts mehr zu fürchten«, bis zum 2. Juli im Zentrum für Medien und Kunst, Lorenzstraße 19, Karlsruhe.

Thomas Atzert, Andreas Löhrer, Reinhard Sauer, Jürgen Schneider (Hg.): Nanni Balestrini. Landschaften des Wortes. Assoziation A (2015), 224 S., br., 16 €.