nd-aktuell.de / 29.05.2017 / Politik

»Großbritannien braucht eine linke Allianz gegen die Tories«

Paul Mason im Interview zur anstehenden Neuwahl, zum Brexit und zu seiner Vorstellung eines progressiven Bündnisses

Johanna Bussemer

Nach dem Anschlag von Manchester läuft der Wahlkampf wieder. Es gab Debatten über die Behandlung des Themas durch beide Spitzenkandidaten Theresa May und Jeremy Corbyn. Labour holt in Umfragen zur Unterhauswahl am 8. Juni weiter auf. Das war vor ein paar Monaten noch nicht zu erwarten. Was ist derzeit Labours größtes Problem?​
Problematisch für Labour ist, dass einige ihrer ehemaligen Wähler und Wählerinnen zwischenzeitlich die extreme Rechte wählten und jetzt wieder zu den Konservativen, also von der Sozialdemokratie über die extreme Rechte zu den Konservativen, gewechselt sind. Die Schwierigkeit besteht darin, einer politischen Koalition der konservativen und rechten Kräfte etwas entgegenzusetzen. Es ist momentan so, als hätte in Deutschland die CDU die AfD absorbiert.

Inzwischen hat Labour sein Manifest verabschiedet. Ist es ein gutes Wahlprogramm?
Wir als Linke haben auf dieses Programm gewartet. Es ist ein historischer Moment für die britische Sozialdemokratie und wahrscheinlich für die Sozialdemokratie in der ganzen Welt, weil es ein wirklich absolut linkes Programm ist.

Was genau ist daran links?
Es verspricht zum Beispiel, die Eisenbahn, die Post und große Teil der Energieversorgung wieder zu verstaatlichen. Es verspricht die Einschränkungen für gewerkschaftliche Organisierung, die unter der Regierung Thatcher eingeführt wurden, über Nacht abzuschaffen. Aber am wichtigsten ist, dass es ein keynesianisches Programm hinsichtlich Ausgaben und Steuern ist. Labour kündigt an, sich 250 Billionen Pfund für Infrastrukturinvestitionen zu leihen. Es ist das größte Angebot einer sozialen Transformation seit 1945. Leider werden diese Wahlen aber hauptsächlich über den Brexit, Nationalismus und Patriotismus und für manche Leute auch über Xenophobie entschieden werden.

Wie sieht der Vorschlag von Labour aus, den Brexit zu verhandeln und wie unterscheidet sich dieser von Mays Plänen?
Mays Konservative haben sich von Pro-Europäern zu Anti-Europäern gewandelt. Sie wollen nicht nur die EU innerhalb der nächsten zwei Jahre verlassen, sie wollen raus aus dem Binnenmarkt. Es wird keinen »Norwegischen Deal« geben. Keine Zollunion. Sie wollen die EU komplett von der britischen Politik und Rechtsprechung ausschließen. Das nennt man einen harten Brexit. Und May betont, dass sie, sollten die Verhandlungen scheitern, im März 2019 zurücktritt. Labour will das komplette Gegenteil. Aber wir müssen den Brexit akzeptieren. Das wider­spricht der Meinung vieler progressiver Mitglieder in der Partei. Labour wird trotzdem für einen »soften«, weniger harten, Brexit kämpfen. Labour will im Gegensatz zu den Konservativen Kompromisse finden. Sich mit Brüssel verbünden und verhandeln. Zum Beispiel mit den Österreichern, auch Macron hat diesen sozialdemokratischen Bezug. Labour wird versuchen, seinen Einfluss zu nutzen, und eine Art norwegischen oder schweizerischen Deal zu vereinbaren.

Ist Labour in der jüngeren Vergangenheit nach links gerückt?
Die Partei hat sich in den letzten zwei Jahren transformiert. Sie hat 200.000 neue Mitglieder gewonnen und ist jetzt eine Volkspartei mit über einer halben Million Menschen. Und die meisten von ihnen sind links. Es gibt gestandene Gewerkschafter, viele junge intelligente Menschen, Technokraten, Akademiker, Menschen, die schon an den Protestbewegungen 2010/11 teilgenommen haben, die eine britische Sanders-Bewegung wollen. Daraus resultierend hat Labour jetzt das linkeste Programm, was es jemals in der britischen Sozialdemokratie gegeben hat. Ein Programm, das das Ende des Neoliberalismus und die Rückkehr von Wohlstand für alle propagiert.

Ist Corbyn also der unangefochtene Leader?
Die jüngste Entwicklung ist ein Pyrrhussieg. Denn auf der anderen Seite gibt es immer noch die liberalen Sozialdemokraten, die etwa Martin Schulz unterstützen. Und die denken, dass die Partei, wenn sie sich auf einen solch radikal linken Weg macht, keine Mehrheiten mehr gewinnen kann. Vielleicht werden sie Recht haben. Das derzeitige Wahlsystem ist nicht gemacht für eine radikal linke Partei. Es zeigen sich gerade alle Frontlinien der staatlichen und elitären Verstrickungen in die Regierungsgeschäfte, nur um gegen Labour zu opponieren.

Labour hat keine Chance auf den Wahlsieg?
Für einen Labour-Sieg braucht es entweder eine Koalition mit anderen Parteien oder eine noch größere Krise als derzeit. Für die Labourlinken wird das ein harter, vielleicht langer Kampf. Wir glauben, dass Theresa Mays EU-Ausstieg, sollte sie gewinnen, eine Katastrophe wird. In zwei Jahren wird sie auf Knien angekrochen kommen und die deutsche und französische Regierung um einen Deal anbetteln und voraussichtlich wird es wieder Neuwahlen geben.

Was passiert im Falle einer Niederlage?
Wenn wir jetzt nicht gewinnen, gibt es zwei Möglichkeiten: das Programm beibehalten und starke Arbeit in der Opposition leisten, um die Verfehlungen der Konservativen einzugrenzen oder anfangen, Koalitionen mit anderen progressiven Kräften zu bilden. Ich denke, wenn wir das tun, dann sind wir 2019, wenn die Regierungskrise kommt, gewappnet. Dann haben wir ein gutes Programm und eine starke Partei zur Übernahme der Regierung.

Was meinst Du genau mit Deinem Vorschlag, eine progressive Allianz zu bilden?
Nach dem Mehrheitswahlrecht gewinnt der Kandidat mit den meisten Stimmen den Wahlkreis. Wir wollen daher eine Allianz mit den Grünen bilden, damit die Stimmen für beide Parteien zusammengezählt werden. Der zweite Teil ist das Bündnis mit der Scottish National Party. Schottland hat 59 Sitze im Parlament. Progressiv Wählende sind dort in den letzten Jahren von Labour zu den schottischen Nationalisten gegangen. Das ist eine progressive, teils linke, nationale Partei. Was Gesundheitsfürsorge und Verteilungspolitik angeht, ist sie sogar linker als Labour. Deshalb sollte Labour mit der SNP koalieren, damit, wenn Labour in England und Wales gewinnt, und die SNP in Schottland, sie zusammen regieren können. Wir brauchen also eine Art strategische Partnerschaft für eine linke Mitte und eine linke Regierung in London. Schaffen wir das nicht, wird es wohl bei einer konservativen Mehrheit bleiben.

In den letzten Tagen gab es für Corbyn und seine Partei viel Zuspruch – wo kommt dieser so plötzlich her?
Labour hat aus zwei Gründen acht Prozentpunkte zugelegt: Erstens das Manifest, welches vorzeitig veröffentlicht wurde. Es beschreibt einen klaren Bruch mit dem Neoliberalismus, den es bisher in der Geschichte der Sozialdemokratie noch nie gegeben hat. Das nimmt mit einem Mal den ewigen Nörglern den Wind aus den Segeln und widerlegt den weit verbreiteten Slogan: »Alle Politiker sind doch gleich.«

Und was ist der zweite Grund?
Die Konservativen haben einen großen Fehler gemacht. Theresa May hat eigenmächtig, ohne ihre Minister zu informieren, den Vorschlag ins Programm eingebracht, ältere Menschen zum Verkauf ihres Wohneigentums zu zwingen (bei einem Selbstbehalt von 100.000 Pfund), um anfallende Kosten für häusliche Betreuung bei Demenzerkrankung zu decken. Das ist das komplette Gegenteil des von einer regierungsfinanzierten Kommission eingebrachten Vorschlags, dies aus Steuergeldern oder eine Art Gemeinschaftsversicherung zu finanzieren.

Wie ist die wachsende Popularität Corbyns zu erklären?
Sein Popularitätszuwachs hat viel mit ihm selbst zu tun. Stark bleiben, sich nicht von Beleidigungen provozieren lassen. Unter jungen Wählenden ist er bereits Kult. Sie kommen zu tausenden, um ihn zu sehen. Überall. Das ist wichtig. Denn der rechte Flügel von Labour, die Neoliberalen und Kriegstreiber, sind entschlossen, Corbyn zu stürzen, sollte er verlieren. Einige sagen sogar, sie werden seine Arbeit als Premierminister, sollte er gewinnen, nicht unterstützen. Doch die Welle der Unterstützung, die Labour seit der Veröffentlichung des Programms erfährt, wird die neoliberalen Kräfte in der Partei hinwegspülen - wie auch immer das Ergebnis ausfallen wird.