nd-aktuell.de / 01.06.2017 / Politik

Anschlag in Kabul befeuert Debatte über Abschiebestopp

SPD uneins über Zwangsausreisen nach Afghanistan / Union sieht weiterhin sichere Provinzen / Özdemir: »Das ist ein krankes System«

Berlin. Nach dem verheerenden Bombenanschlag in direkter Nähe der deutschen Botschaft in Kabul hat die Debatte um einen Stopp sämtlicher Abschiebungen nach Afghanistan wieder an Fahrt gewonnen. Politiker von SPD und Grünen sowie Menschenrechtsgruppen verlangten, keine Afghanen mehr in ihr Heimatland zurückzuschicken. In Nürnberg kam es am Mittwoch zu Tumulten, als rund 300 Menschen versuchten, die Abschiebung eines 20-jährigen Afghanen zu verhindern. Neun Polizisten wurden verletzt, fünf Menschen vorübergehend festgenommen.

Wegen des Anschlags mit mindestens 90 Toten und Hunderten Verletzten verschob die Bundesregierung einen für Mittwoch geplanten Abschiebeflug nach Afghanistan. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) will aber weiter abgelehnte Asylbewerber zurückschicken. Er sagte, angesichts des Anschlags hätten die Mitarbeiter der Botschaft in Kabul derzeit Wichtigeres zu tun als sich mit Abschiebungen zu beschäftigen. »Deshalb habe ich entschieden, diesen Flug abzusagen. Er wird aber bald möglichst nachgeholt.«

Grüne fordern Abschiebestopp nach Afghanistan

Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir hat nach dem Bombenanschlag vehement ein Ende von Abschiebungen nach Afghanistan gefordert. »Das ist ein krankes System«, sagte der Spitzenkandidat der Grünen für die Bundestagswahl am Donnerstag im ARD-»Morgenmagazin«. Das Außenministerium müsse seine Einschätzung, dass Abschiebungen nach Afghanistan möglich sind, ändern und nicht länger »Gefälligkeitsgutachten« für de Maizière erstellen. »Ich fordere den Außenminister auf, jetzt, in dieser Situation, endlich das Notwendige zu machen - auf sein Herz zu hören, die Lageberichte der Wirklichkeit anzupassen«, erklärte Özdemir. Ähnliches forderte auch Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt.

LINKEN-Parteichefin Katja Kipping sagte der Nachrichtenagentur AFP, es sei »unmenschlich«, das Bürgerkriegsland immer noch als sicher einzustufen.

Unionsfraktionsvize Stephan Harbarth betonte in der »Rheinischen Post«: »Es gibt Provinzen und Distrikte, in denen die Lage vergleichsweise sicher und stabil ist.« Auch SPD-Innenexperte Burkhard Lischka sprach von »relativ sicheren« Gegenden am Hindukusch. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe, Abschiebungen nach Afghanistan seien »immer noch zumutbar«.

Auch FDP-Chef Christian Lindner lehnte es ab, Rückführungen abgelehnter Asylbewerber nach Afghanistan zu stoppen. »Ein genereller Abschiebestopp wäre ein Konjunkturprogramm für kriminelle Schlepper«, sagte er der »Passauer Neuen Presse«. Die Bewertung der Lage in Afghanistan müsse Sache der unabhängigen Justiz und nicht der Politik sein.

Zweifel an der Zumutbarkeit äußerte Bremens Bürgermeister Carsten Sieling (SPD). »Der grausame Anschlag in Kabul macht es aus meiner Sicht zwingend, dass die Bundesregierung ihre Sicherheitseinschätzung überprüft«, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Ähnlich äußerte sich Bundesratspräsidentin Malu Dreyer (SPD). Rainer Arnold, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, sprach sich für einen zumindest zeitweisen Abschiebestopp aus. »Im Augenblick sind Abschiebungen nach Afghanistan nicht zu verantworten. In diesem Land können die Menschen nirgendwo sicher leben«, so Arnold in der »Passauer Neuen Presse«.

Pro Asyl forderte unterdessen einen kompletten Stopp von Abschiebungen nach Afghanistan und eine Freilassung möglicher Abschiebehäftlinge aus dem Land. Auch die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International forderte die Bundesregierung auf, auf Rückführungen nach Afghanistan zu verzichten.

Hintergründe des Anschlags noch unklar

Unklar war, ob der Anschlag der deutschen Botschaft galt. »Im Moment haben wir dazu noch kein vollständiges Lagebild«, sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes. In dem Viertel liegen in unmittelbarer Nähe noch andere Botschaften, der Präsidentenpalast, das NATO-Hauptquartier und viele afghanische Ministerien.

Bei dem massiven Anschlag mit einer Lastwagenbombe gab es nach Angaben des afghanischen Gesundheitsministeriums neben den vielen Todesopfern auch rund 460 Verletzte. Laut einer Sprecherin des Auswärtigen Amtes wurden eine deutsche Diplomatin leicht und eine afghanische Mitarbeiterin der Botschaft schwer verletzt. Ein afghanischer Wächter wurde getötet. Das Hauptgebäude der Botschaft wurde massiv beschädigt.

Unklar war zunächst, wer hinter der Tat steckt. Die radikalislamischen Taliban ließen verlauten, sie seien es nicht gewesen. Ähnliche Anschläge hatte zuletzt die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) für sich reklamiert. Aber auch auf den üblichen IS-Kanälen gab es kein Bekenntnis.

Die Bombe war am Mittwochmorgen gegen 8.30 Uhr (Ortszeit) an einer vielbefahrenen, engen Straße explodiert. Viele Menschen waren dort gerade auf dem Weg zur Arbeit. Innenministeriums-Sprecher Nadschib Danisch sagte, die Attentäter hätten den Sprengstoff in einem Tanklastwagen versteckt. Die Wucht der Explosion habe mindestens 50 Fahrzeuge zerstört. Bilder zeigten ausgebrannte Autowracks, versengte Bäume, mit Geröll übersäten Asphalt und einen mehrere Meter tiefen Krater nahe der deutschen Botschaft. Agenturen/nd