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Unverbindliche Linke

Warum die Individualität auch in der Linken die Solidarität schlägt

  • Paula Irmschler
  • Lesedauer: 2 Min.

Was haben wir darum gekämpft, uns auf nichts mehr festlegen zu müssen. Karriere, Kinder, Bausparvertrag, Eigentumswohnung, Jahresurlaub, Rente, Wocheneinkäufe - antiquierter Schmarrn! Nichts muss mehr stattfinden, nichts ist vorgezeichnet, es gibt kein Schema F, kommst du heute nicht, so kommst du morgen, bloß kein Stress, sei du selbst, lass dir Freiraum, ich melde mich noch mal, Zwang ist Faschismus, wir bekommen noch alles, was wir brauchen, beim Späti.

Wer in Berlin ein Zimmer sucht, und sei es in Haushalten, die sich noch so kommunistisch schimpfen, muss sich erst mal Annoncen in sozialen Netzwerken, deren Profilsuche stark dem von Datingportalen ähnelt, stellen. Mit einer Bewerbungssituation à la »ruf uns nicht an, wir rufen dich an« abfinden, dann einem Casting aussetzen, nur um dort genauestens auf Finanzen, Lebenswandel und Sozialisation abgeklopft zu werden. Am liebsten bleibt man unter sich. So mancher Konzern kann von den Auswahlkriterien linker Wohnprojekte noch was lernen. Not ist groß, Macht über Wohnraum ist größer. Bald muss man auch wieder ausziehen, weil es nur einen vorläufigen Mietvertrag in der Ekelbude gibt, in der die Idee »Putzplan« nur eine ironische Reminiszenz an WG-Karikaturen ist, und der Hauptmieter, der sich sonst gern für flache Hierarchien einsetzt, »ein unangenehmes Gefühl« bei dem Neuzugang hat und »nicht so gut mit ihm kann«. Widdewidde, wie ihr mir gefallt. Altlinke Hausbesetzer weinen in ihre Kissen.

Einmal die Woche setzt man sich dann mit seiner Politgruppe zusammen, um mal was »gegen die Gesamtscheiße« zu unternehmen. Beim Plena-Pingpong werden drei Stunden lang von den Leuten, die nicht wegen »morgen früh raus« abgesagt haben, Sätze wie »da sollten wir uns noch mal inhaltlichen Input besorgen« und »müssen wir ja heute nicht beschließen« hin- und hergeschmissen und ins Protokoll gepastet, bis man erschöpft, mit dem Gefühl, was getan zu haben, nach Hause geht. Bei einer Party am Wochenende im vom Kollektiv betriebenen Schuppen wird ganz selbstverständlich voneinander erwartet, doch für umsonst zu arbeiten. Es geht um die Sache, Selbstausbeutung bis zum Kommunismus. Das Wichtigste ist, dass, ganz leistungsorientiert, die Afterhour möglichst lang durchgehalten und anschließend wegen Verkaterung leider keine Verabredung eingehalten wird.

Linke, als emanzipatorisches Freiheitsbestreben deklarierte Unverbindlichkeit ist in egoistisches Arschlochverhalten übergegangen. Individualität schlägt Solidarität. Wenn wir uns das nächste Mal auf einer Free-Tek-Sache gegenüberstehen und überlegen, nach Leipzig zu ziehen, um uns dort gegen Gentrifizierung zu engagieren, dann sollten wir uns erst mal gegenseitig als das bezeichnen, was wir sind: Teil des Problems.

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