nd-aktuell.de / 03.06.2017 / Kultur / Seite 9

Volksversammlung

Angela Merkel ist eine Meisterin umständlich formulierter Sätze, die ihren Sinn erst dann entfalten können, wenn man lange, sehr lange über sie nachdenkt. Nur ihr »Wir schaffen das, da bin ich fest davon überzeugt!« wich davon ab, und wahrscheinlich bereut sie es bis heute, dass sie im August 2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingszuwanderung einmal euphorisch wurde.

Ansonsten gilt für Merkel: Statt klipp und klar Tacheles zu reden, muss sie noch in jeder These eine Einschränkung unterbringen. Anfang der Woche äußerte sich die Kanzlerin zum Verhältnis zwischen den USA und Europa nach dem G7-Gipfel in Sizilien. Und da entfuhr es ihr scheinbar spontan: »Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei.«

Hätte Merkel das im Bundestag gesagt, so zwischen zweiter und dritter Lesung des Gesetzes zur Neuregulierung der Haltestellenregelung für Binnenschiffe in Gewässern mit mindestens 1,5 Metern Fahrrinnentiefe, ja dann wäre der Satz wohl nicht von der internationalen Öffentlichkeit wahrgenommen worden. Merkel aber, diese spröde Protestantin aus dem trockenhumorigen Norden Deutschlands, sagte den Satz in einem Bierzelt in Bayern. An einem Ort also, der spätestens seit der Regentschaft von Franz-Josef Strauß als bayerischer Ministerpräsident als imaginierter Versammlungsort des Volkes gilt, in dem Menschen zu Blasmusik schunkeln, sich Alkoholexzessen hingeben und in die Gemeinschaft der Bankdrücker gezwungen werden - aufgereiht auf lehnenlosen Sitzgelegenheiten und ohne Aussicht, je aufstehen zu können, weil links und rechts die ganze Bank mit Gleichleidenden gefüllt ist. Sie müssen sitzen bleiben, können sich nicht erheben und sind so den Dingen ausgeliefert, die vorne am Rednerpult verbal angefertigt werden. Selbst der Ausweg, unter dem Tisch zwischen Schenkeln hindurch in die Freiheit zu kriechen, ist versperrt, denn den verbietet die Etikette - und den unterbindet schon der übernächste Tischnachbar, der sich nur ungern untenrum belästigen lässt.

Also bleibt das Volk sitzen. Das ist frustrierend - ein Stück zumindest, denn Kluge wissen, beim nächsten »Prosit der Gemütlichkeit« dürfen sich alle wieder erheben. Und mit solch einer Volkserhebung kann Angela Merkel gut leben. jam